
Boulez sur Incises
Boulez Ensemble & Daniel Barenboim
Musik / Konzert Ensemble & Orchester 0
Drei Klaviere, drei Harfen, drei Schlagzeuger – die ungewöhnliche Kombination von Instrumenten, die Pierre Boulez für eine seiner umfangreichsten Partituren wählte, wird zum Ausgangspunkt für eine dramatisch aufgeladene, hochemotionale Musik, die sich durch ebenso kraftvolle wie fein ziselierte und modulationsreiche Klangfarben auszeichnet. Wie nicht selten im Schaffen des Komponisten liegt auch sur Incises ein früheres Werk zugrunde, das er im Laufe der Jahre weiterentwickelte und musikalisch wachsen ließ: Incises („Einschnitte“), ein fünfminütiges Stück für Klavier solo, war 1994 als Auftragsarbeit für den italienischen Umberto Micheli Klavierwettbewerb entstanden. Anlass für die Komposition von sur Incises war der 90. Geburtstag des Schweizer Dirigenten und Mäzens Paul Sacher im Jahr 1996. Grundlage des musikalischen Materials ist der sogenannte Sacher-Hexachord (bestehend aus den Tönen eS-A-C-H-E-Re), den Boulez auch in anderen Werken verwendete. Im Pierre Boulez Saal erklang sur Incises erstmals im Rahmen des Eröffnungskonzerts am 4. März 2017 – eine Aufführung, die in dieser Aufnahme festgehalten ist. Eine Koproduktion von UNITEL und RBB in Zusammenarbeit mit ARTE und dem Pierre Boulez Saal. |
Pierre Boulez (1925–2016)
sur Incises für drei Klaviere, drei Harfen und drei Schlagzeuger (1996–98/2006)
Moment I
Moment II
Daniel Barenboim Musikalische Leitung
Denis Kozhukhin, Michael Wendeberg, Karim Said Klavier
Aline Khouri, Susanne Kabalan, Stephen Fitzpatrick Harfe


„[A]llein Freyheit, weiter gehn ist in der Kunstwelt, wie in der ganzen großen schöpfung, zweck“, bekannte Beethoven. Zweihundert Jahre später sollte der Franzose Pierre Boulez die Fortschrittsfrage, diese alte Frage nach dem Neuen, wunderbar undogmatisch beantworten, als er sagte: „Schöpferisch sein ist wie auf einem Fahrrad. Wenn man nicht vorwärts fährt, fällt man um.“
„Sie finden es vielleicht merkwürdig, was ich jetzt sage, denn man behauptet ja immer, dass die Kultur der eigenen Nation einen entscheidenden Einfluss ausübt; aber mich hat – sozusagen aus der Ferne – die deutsche Musik am stärksten beeinflusst, und zwar vom Formalen her“, betonte Boulez. Das „Formale“ stellte er sich freilich nicht wie ein solides Gebäude vor, in das die lachenden Erben nur noch einziehen müssten mit ihrem Mobiliar. Boulez sprach in biblischen Gleichnissen: „Für mich ist eine musikalische Idee wie ein Samenkorn: Man pflanzt es in eine bestimmte Erde und plötzlich vermehrt es sich wie ein Unkraut. Dann muss man jäten.“ Als sein Vorbild im Pflanzen und Jäten benannte er Johann Sebastian Bach, aber nicht den Bach der Kunst der Fuge, sondern den Bach der Choralbearbeitungen, der für Boulez das musikalische Ideal der frei entfalteten, unvorhersehbaren Form repräsentiert: Wachstum, Verzweigung, Verästelung und Wucherung. Dieses Wort wählte Boulez ausdrücklich: Wucherung.
Und das Werk wucherte über Jahre und Jahrzehnte: „So lange wie ich das Material eines Stückes nicht vollständig aufgebraucht habe, nutze ich es weiter, bis es erschöpft ist. Daher sind in gewissem Sinne alle meine Kompositionen ein ‚work in progress‘.“ Aus Incises, einem Klavierstück von 1994, wurde über die Zeit, bis 2006, sur Incises für drei Klaviere, drei Harfen und drei Schlagzeuger, auf die mehr als vierfache Spieldauer verlängert „durch die unterschiedlichsten Formen von Multiplikation, angefangen von der einfachen bis hin zur sechs- und mehrfachen Spiegelung“, erläuterte Boulez. Ursprünglich hatte er im Sinn, Incises in ein (oder eine Art von) Klavierkonzert zu verwandeln, für Maurizio Pollini und ein Ensemble von Instrumentalisten. Aber der gedankliche Rückgriff auf die Konzertform und die konzertante Literatur schlug keine Funken mehr.
Die Dreizahl der Klaviere ergab sich aus einer bewussten musikhistorischen Abgrenzung: einerseits zu Bartoks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug, andererseits zu Strawinskys Ballettkantate Les Noces mit vier Klavieren und Schlaginstrumenten – „so bin ich schließlich bei drei Klavieren gelandet“, verriet Boulez. Eine Kombination mit Blechbläsern wiederum zog er nicht näher in Betracht, weil sie, zumindest auf den ersten, irreführenden Blick, an Hindemiths Konzertmusik für Klavier, Blechbläser und zwei Harfen erinnert hätte. „So bin ich auf die drei Schlagzeuge gekommen. Und dann kam mir noch die Idee mit den drei Harfen. Ich hatte also diese Ausgangsposition: drei Klaviere, drei Harfen, drei Schlagzeuger, also drei mal drei, und das ist neun. Und das Stück wurde geschrieben für den 90. Geburtstag von Paul Sacher. Aber das ist wirklich nur Zufall. Ich hatte die Neun nicht absichtlich genommen.“
Aus sur Insices wurde jedenfalls ein Werk zum Hören, zum Lesen (der Partitur), aber nicht zuletzt zum Anschauen: „Ich habe den unterschiedlichen Klangcharakter der Instrumente auch dadurch hervorgehoben, dass ich die Instrumente in charakteristischer Weise postierte“, sagt Boulez. „So kann man auch sehen, was man hört. Ich bin mit den Klangkombinationen in diesem Stück wirklich sehr zufrieden, auch übrigens mit der Art und Weise, wie die gewissermaßen exotischen Instrumente sich integrieren. Ich gebrauche die Steel Drums nicht um ihrer selbst willen als exotische oder folkloristische Farbe, sondern weil sie die herkömmlichen Grenzen der einzelnen Instrumentenfamilien aufsprengen. Man fragt sich, was ist das? Denn dieser Klang gehört zu allen Familien und gleichzeitig zu keiner.“
Ob die Neugierde mit dem Alter abnähme, wollte einmal jemand von Pierre Boulez wissen. „Gar nicht“, lautete seine Antwort. „Nur die Grenze rückt näher, und man fragt sich bei manchen Dingen: Wird das kommen, bevor ich verschwinde?“ Verschwunden ist er ganz sicher nicht, wenn das Boulez Ensemble im Pierre Boulez Saal Pierre Boulez spielt.
—Wolfgang Stähr
Dieser Text erschien erstmals im Programmheft des Pierre Boulez Saals zum Konzert des Boulez Ensembles am 26. April 2018.
Conductor
Daniel Barenboim
Percussion
Lev Loftus, Pedro Torrejón González, Dominic Oelze
Piano
Denis Kozhukhin, Michael Wendeberg, Karim Said
Harp
Aline Khouri, Susanne Kabalan, Stephen Fitzpatrick
Video Director
Henning Kasten
Kamera
Tobias Albrecht
Maik Behres
Michael Boomers
Boris Fromageot
Winifried Herrmann
Stefan Kochinke
Martin Roth
Erik Thon
Annett Zimmermann
Crane operators
Matthias Wahle
Peter Zoephel
Audio Producer
Friedermann Engelbrecht
Audio Engineers
Julian Schwenker
Sebastian Nattkemper
Audio Postproduction
Thomas Bössl
Video Technicians
Piet Grotelüschen
Arno Scholwin
Felix Schlag
Lighting Designer
Mario Klapper
Lighting Technicians
René Gamsa
Jörn Scholz
Fin Ole Langer
Ulf Keilhofer
Video Operator
Mark C. Rump
Graphics Operator
Kilian Hirt
Video Editors
Anna Druggemeester
Uli Peschke
Assistant Stage Director
Martin Feil
Unit Manager
Ines Kadgien
Commissioning Editors Arte
Christian von Behr
Dorothea Diekmann
Sabine Muller
Executive Producer Salve TV
Karl-Martin Lötsch
UNITEL
Post production Manager
Roger Voß
Production Manager
Franziska Pascher
Producer
Magdalena Herbst
Eine Co-Produktion von UNITEL und RBB in Zusammenarbeit mit ARTE und Pierre Boulez Saal.
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