Julia Lezhneva Sopran
Alexander Melnikov Klavier

Sergej Rachmaninow (1873–1943)

Veter perelëtnyj (Der wandernde Wind) op. 34 Nr. 4 (Balmont)
Kol’co (Der Ring) op. 26 Nr. 14 (Koltsow)
Siren’  (Flieder) op. 21 Nr. 5 (Beketowa)
Ja opjat’ odinok (Ich bin wieder allein) op. 26 Nr. 9 (Bunin)
U moego okna (An meinem Fenster) op. 26 Nr. 10 (Galina)
Ja ne prorok (Ich bin kein Prophet) op. 21 Nr. 11 (Kruglow)

aus Préludes für Klavier op. 32
Nr. 5 G-Dur
Nr. 10 h-moll
Nr. 12 gis-moll

My otdochnëm (Wir werden ruhen) op. 26 Nr. 3 (Tschechow)
Christos voskres (Christ ist erstanden) op. 26 Nr. 6 (Mereschkowski)
Na smert’ čižika (Auf den Tod eines Zeisigs) op. 21 Nr. 8 (Schukowski)
Zdes’ chorošo (Es ist so schön hier) op. 21 Nr. 7 (Galina)
Burja (Der Sturm) op. 34 Nr. 3 (Puschkin)


Pause


Sumerki (Zwielicht) op. 21 Nr. 3 (Tchorschewski)
Muzyka (Musik) op. 34 Nr. 8 (Polonski)
Margaritki (Gänseblümchen) op. 38 Nr. 3 (Sewerjanin)
Otryvok iz A. Mjusse (Fragment nach A. Musset) op. 21 Nr. 6 (Apuchtin)

aus Études-Tableaux für Klavier op. 39
Nr. 6 a-moll
Nr. 7 c-moll

Ne možet byt’ (Es kann nicht sein) op. 34 Nr. 7 (Maikow)
Noč’ pečal’na (Die Nacht ist trauervoll) op. 26 Nr. 12 (Bunin)
Melodija (Melodie) op. 21 Nr. 9 (Nadson)
Arion op. 34 Nr. 5 (Puschkin)
Son (Traum) op. 38 Nr. 5 (Sologub)
One otvečali (Sie antworteten) op. 21 Nr. 4 (Mei)


Zugaben

Wolfgang Amadeus Mozart: „Voi che sapete“ aus Le nozze di Figaro
Michail Glinka: Ja pomnju čudnoe mgnoven’e (Ich erinnere mich des schönen Moments)
Pjotr Tschaikowsky: Sred’ šumnogo bala (Inmitten des Balles) op. 38 Nr. 3

 

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Sergej Rachmaninow in der Villa Senar, seinem Sommerwohnsitz im schweizerischen Hertenstein am Vierwaldstättersee, wo Julia Lezhneva und Alexander Melnikov im vergangenen Jahr einen Großteil des heutigen Programms aufgenommen haben. (© Serge Rachmaninoff Foundation)

Das westliche Publikum begegnet russischer Musik meist in der Oper oder im Symphoniekonzert, und kaum ein Orchester hat nicht zumindest einige der Symphonien von Tschaikowsky, Prokofjew oder Schostakowitsch im Programm. Doch die Gattung, in der sich die meisten russischen Komponisten hervorgetan haben, nämlich das Lied – man nennt es im Russischen Romanze – ist weitgehend unbekannt geblieben. Dabei war dieses Genre für das kulturelle Leben Russlands von ebenso zentraler Bedeutung wie das Lied in den deutschsprachigen Ländern oder die Mélodie in Frankreich.

Essay von Philip Ross Bullock

Die Kunst der russischen Romanze
Lieder und Klavierwerke von Sergej Rachmaninow 

Philip Ross Bullock


Das westliche Publikum begegnet russischer Musik meist in der Oper oder im Symphoniekonzert. Tschaikowskys Eugen Onegin und Pique Dame, Mussorgskys Boris Godunow, Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk und Prokofjews Krieg und Frieden werden weltweit regelmäßig aufgeführt, und kaum ein Orchester hat nicht zumindest einige der sechs Symphonien von Tschaikowsky, der sieben Prokofjews oder der 15 von Schostakowitsch im Programm, ganz zu schweigen von symphonischen Dichtungen wie Tschaikowskys Romeo und Julia oder Mussorgskys Nacht auf dem kahlen Berge. Im Konzertrepertoire haben Solist:innen die Wahl zwischen Meisterwerken von Tschaikowsky, Prokofjew und Schostakowitsch.

Doch die Gattung, in der sich die meisten russischen Komponisten hervorgetan haben, nämlich das Lied, ist weitgehend unbekannt geblieben. Dabei war dieses Genre – man nennt es im Russischen Romanze – für das kulturelle Leben Russlands von ebenso zentraler Bedeutung wie das Lied in den deutschsprachigen Ländern oder die Mélodie in Frankreich. Und wie diese ist auch die russische Romanze eng mit der literarischen Entwicklung verknüpft. Sie entstand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Dichtung die vorherrschende literarische Gattung war. Es war das sogenannte Goldene Zeitalter, die Ära von Alexander Puschkin und Michail Lermontow, deren musikalisches Pendant Michail Glinka war, den Tschaikowsky später den „Keim“ nannte, „aus dem die Eiche der russischen Musik entsprang“. In nationalistischen Darstellungen wurde oft betont, wie viel Glinka der Volkskultur zu verdanken habe, doch tatsächlich bildete sich sein Stil während eines vierjährigen Aufenthalts in Mailand und Berlin heraus. Als er 1834 nach St. Petersburg zurückkehrte, wurde er zum festen Bestandteil der Salons, wo er zur Begeisterung der gesellschaftlichen Elite Russlands seine eigenen Lieder vortrug.

Tschaikowsky trat in Glinkas Fußstapfen und gab 1862 seine Karriere im russischen öffentlichen Dienst auf, um am neu gegründeten Konservatorium in St. Petersburg zu studieren. Wer ihn als jungen Mann gekannt hat, wäre von der Existenz seiner etwa 100 Romanzen überrascht gewesen. Ein Freund berichtete von Tschaikowskys Entschlossenheit, „niemals irgendwelche kleinen Klavierstücke oder Lieder zu schreiben. Über Letztere äußerte er sich mit der größten Abneigung.“ Doch wie derselbe Freund bemerkte, konnte sich der Komponist durchaus auch selbst widersprechen: „Im nächsten Augenblick schon redete er mit zunehmender Begeisterung über die Lieder von Glinka, Schumann oder Schubert.“ Sie waren nicht nur in schöpferischer Hinsicht reizvoll. Bei den vielen begabten Amateurmusiker: innen im gesamten Russischen Reich erfreuten sich Lieder größter Beliebtheit, und Tschaikowskys Verleger gab so viele wie möglich davon in Auftrag in der Gewissheit, sie gut verkaufen zu können. Tschaikowsky – stets knapp bei Kasse und zur Genusssucht neigend – erfüllte diese Bitte gerne.

Auftritt Rachmaninow

Obgleich Sergej Rachmaninow nie bei Tschaikowsky studiert hatte, wurde er wie selbstverständlich zum Nachfolger des älteren Komponisten auserkoren. Als seine (auf Puschkins Verserzählung Die Zigeuner basierende) Oper Aleko, die er noch als Student komponiert hatte, im Mai 1893 im Moskauer Bolschoi-Theater uraufgeführt wurde, saß Tschaikowsky im Publikum und applaudierte dem jungen Komponisten demonstrativ. Mit dem plötzlichen Tod Tschaikowskys im Herbst des gleichen Jahres verlor Rachmaninow einen wichtigen Mentor und Förderer – doch war damit auch der Weg frei, um selbst zum berühmtesten lebenden Musiker Russlands aufzusteigen. Als mittelloser Künstler, der am Beginn einer ungewissen beruflichen Laufbahn stand, brauchte er eine verlässliche Einnahmequelle. So schloss er einen Vertrag mit dem Verleger Gutheil, dem er die Treue hielt, bis er 1917 Russland verließ.

Zu den ersten von Rachmaninow veröffentlichten Werken gehörten Klavierminiaturen wie die Cinq Morceaux de Fantaisie op. 3 (darunter das allgegenwärtige Prélude cis-moll), die sieben Morceaux de Salon op. 10 und die sechs Moments Musicaux op. 16, die alle sehr bewusst auf den Amateurmarkt zugeschnitten waren. Außerdem komponierte er drei Liedsammlungen, die direkt an das Vermächtnis Tschaikowskys anknüpften. Mit den Sechs Liedern op. 4, den Sechs Liedern op. 8 (beide 1893) und den Zwölf Liedern op. 14 (1896) verfeinerte er nicht nur den mit Tschaikowsky (und vor ihm Glinka) verbundenen lyrischen Stil, sondern vertonte überdies teilweise dieselben Dichter und gelegentlich sogar dieselben Texte.

Neue Wege

Das Bild Rachmaninows als Konservativer, der der verlorenen romantischen Welt des 19. Jahrhunderts nachtrauert, hält sich hartnäckig. Es ist zwar ein Körnchen Wahrheit darin, doch wird damit auch übersehen, wie sensibel er auf neue Einflüsse reagierte. Nach der katastrophalen Uraufführung seiner Ersten Symphonie im März 1897 in St. Petersburg zog er das Werk zurück und verstummte als Komponist für mehrere Jahre. Durch eine Therapie bei dem Arzt Nikolai Dahl überwand er seine Depression, und die Heirat mit seiner Cousine Natalia Satina im Jahr 1902 bescherte ihm Gesellschaft, Verständnis und zwei von ihm innig geliebte Töchter, Irina und Tatiana.

Die um diese Zeit komponierten Werke gehören zu den ambitioniertesten, die er bis dahin geschrieben hatte – die Suite Nr. 2 für zwei Klaviere, das Zweite Klavierkonzert, die Sonate für Violoncello und Klavier, die Variationen über ein Thema von Chopin und die Zwölf Lieder op. 21. Die meisten dieser Lieder entstanden im Frühjahr 1902, und das großzügige Honorar, das er dafür von seinem Verleger erhielt, ermöglichte die dreimonatige Hochzeitsreise mit Natalia nach Österreich, Deutschland, Italien und in die Schweiz. Doch hinter den Liedern steckt mehr als nur finanzielle Interessen. Nachdem seine Erste Symphonie durchgefallen war, wurde Rachmaninow als Dirigent an die von dem Mäzen Sawwa Mamontow finanzierte Russische Privatoper in Moskau engagiert. Dort lernte er den bedeutenden dramatischen Bass Fjodor Schaljapin kennen, mit dem er die Titelrolle von Mussorgskys Boris Godunow einstudierte. Der eigensinnige und nicht akademisch ausgebildete Mussorgsky hatte sich vom geschliffenen-eleganten Stil Glinkas und Tschaikowskys abgewandt und versuchte stattdessen, das Wesen lebendiger, menschlicher Sprache zu vermitteln. Jedes seiner Lieder ist eine dramatische Miniaturszene, die eher dem wahren Leben als den Konventionen der Kunst verpflichtet ist.

Mussorgskys Einfluss auf Rachmaninow ist am besten hörbar im opernhaften Überschwang von Fragment nach A. Musset und Ich bin kein Prophet. Doch auch wenn er von Mussorgskys skrupulösem Umgang mit jeder einzelnen Silbe und jedem einzelnen Wort gelernt hatte, verlor Rachmaninow nie sein Gespür für emotionale Innerlichkeit. Auf den Tod eines Zeisigs besitzt eine charmante Sentimentalität, während Melodie von glühender Inbrunst durchdrungen ist. Fließende Klavierlinien wie in Sie antworteten erinnern daran, dass Rachmaninow ein virtuoser Pianist war. Gleichzeitig war er aber auch Grundbesitzer und kümmerte sich um das Landgut seiner Frau in Iwanowka in der Nähe von Tambow. Von seiner Liebe zur russischen Landschaft zeugen Zwielicht und Flieder. Es ist so schön hier schließlich zeichnet ein zartes musikalisches Portrait von Natalia, der das Lied gewidmet ist.

Zwei musikalische Frauen

Rachmaninow kehrte 1906 zur Liedkomposition zurück. Die Jahre zuvor hatte er am Bolschoi-Theater verbracht, wo er die Uraufführungen seiner eigenen Opern Der geizige Ritter und Francesca da Rimini dirigiert hatte. Erschöpft und auf der Suche nach neuer Inspiration ging er für eine längere Auszeit nach Dresden, wo er bis 1909 blieb. Die Kosten für den Umzug wurden durch einen zur rechten Zeit erteilten Auftrag von Arkadi und Maria Kerzin gedeckt, den Mäzenen einer Konzertreihe in Moskau. Die 15 Lieder op. 26 entstanden in gerade einmal vier Wochen. Wie nicht anders zu erwarten bei einem Komponisten, der so aktiv an der Oper tätig war und mit so vielen führenden Sänger:innen Russlands zusammengearbeitet hatte, sind viele davon ausgesprochen dramatisch. Wir werden ruhen ist die Vertonung von Sonjas letztem feierlichen Monolog in Tschechows Onkel Wanja, und Der Ring, wieder eine eigenständige Miniaturszene, beschwört lebhaft die Welt des traditionellen Volksglaubens herauf. Rachmaninow war bei politischen Themen im Allgemeinen eher zurückhaltend, die Wahl von Christ ist erstanden deutet jedoch auf eine gewisse Desillusionierung über den Zustand der russischen Gesellschaft im Gefolge der Revolution von 1905 hin, während Ich bin wieder allein ein trostloses Gefühl existenzieller Isolation artikuliert. Mit An meinem Fenster und Die Nacht ist trauervoll verabschiedete sich Rachmaninow wehmütig von seiner Heimat, die er bald verlassen würde, wenn auch nur vorübergehend.

Viele der Texte für diese Lieder hatte Maria Kerzina vorgeschlagen, was jedoch manche nicht davon abhielt, Rachmaninow einen mittelmäßigen literarischen Geschmack zu unterstellen. Im Frühjahr 1912 erhielt er den Brief einer anonymen Verehrerin, die diesen einfach mit „Re“ (der Note D in italienischer Terminologie) unterzeichnete. Er stammte von der symbolistischen Dichterin Marietta Schaginjan, die Kontakt mit Rachmaninow suchte, um seine Textauswahl gewissermaßen aufzufrischen, wobei ihm ihre Ideen nicht immer zusagten. Als er sich bei ihr für eine Anthologie zeitgenössischer Gedichte bedankte, erklärte er: „Einige davon gefallen mir, aber die meisten Gedichte finde ich fürchterlich.“ Dennoch hatte sie einen tiefgreifenden Einfluss auf die 15 Lieder op. 34. Darunter finden sich kraftvolle Interpretationen philosophischer Gedichte von Puschkin – Der Sturm und Arion – ebenso wie eine zurückhaltende Reaktion auf den parnassischen Text von Jakow Polonskis Musik und eine ebenso knappe wie flamboyante Vertonung von Apollon Maikows Es kann nicht sein. Der wandernde Wind nach einem Gedicht von Konstantin Balmont war eines der ersten Zugeständnisse Rachmaninows an die moderne Lyrik.

Die Lieder bedeuten auch eine Veränderung im musikalischen Stil des Komponisten. Wie die erste Gruppe der Études-Tableaux für Klavier, die ihnen unmittelbar vorausgingen, bedienen sie sich einer weitaus moderneren Sprache, als sie Rachmaninows Ruf als Spätromantiker erwarten ließe. Diese Entwicklung setzte sich in den Sechs Liedern op. 38, ebenfalls nach von Schaginjan vorgeschlagenen Texten, noch weiter fort. Sie entstanden zwischen September und November 1916 und greifen sechs Gedichte führender zeitgenössischer Dichter auf, die Rachmaninow allerdings eher mit nachdenklicher Sensibilität als mit selbstbewusster Experimentierfreude musikalisch umsetzte. Schließlich war er kein Arnold Schönberg oder Igor Strawinsky. Strawinsky hatte Rachmaninow bekanntlich als einen „ein Meter achtundneunzig großen Finsterling“ beschrieben, doch seine Vertonung von Gänseblümchen lässt erkennen, dass er einen sehr feinen Sinn für Humor hatte, und Traum deutet auf Emotionen hin, die sich nicht ohne Weiteres in Worte fassen lassen.

Lieder ohne Worte

Diese sechs Lieder sollten Rachmaninows letzte sein. Durch die Emigration riss die schöpferische Verbindung zur Sprache und zur Landschaft, die ihn bis dahin so tiefgreifend inspiriert hatten, ab. Er betätigte sich nun vor allem als Pianist und nahm bei den Tausenden von Konzerten, die er bis zu seinem Tod am 28. März 1943 gab, regelmäßig eigene Solokompositionen ins Programm auf. Seinem ersten, 1892 entstandenen Prélude (dem bereits erwähnten in cis-moll) fügte er später 23 weitere hinzu – eines in jeder Dur- und Molltonart –, wie es vor ihm Frédéric Chopin getan hatte. Die Préludes in G-Dur und gis-moll, die Teil des heutigen Programms sind, zeigen, wie geschickt Rachmaninow das Klavier zum „Singen“ bringen konnte. Zum h-moll-Prélude soll ihn das Gemälde Die Heimkehr von Arnold Böcklin angeregt haben (der bereits die symphonische Dichtung Die Toteninsel inspiriert hatte). Eine solche visuelle Komponente findet sich auch in den Zyklen der Études-Tableaux op. 33 und 39, die 1911 beziehungsweise 1916/17 entstanden. Gleichzeitig sind sie brillante technische Studien. Das a-moll-Werk op. 39 Nr. 6 (von dem Rachmaninow später erklärte, es erzähle die Geschichte von Rotkäppchen und dem Wolf) ist ein Bravourstück voller virtuoser Läufe und Figuren. Mit der Nr. 7 in c-moll beschwor der schon immer fatalistisch gesonnene Komponist die Atmosphäre eines feierlichen Begräbniszugs herauf.

Übersetzung: Sylvia Zirden

 

Philip Ross Bullock lehrt als Professor für Russische Literatur und Musik an der Universität Oxford. Er ist u.a. Autor der Monografie Pyotr Tchaikovsky (London 2016) und Herausgeber des Bandes Rachmaninoff and His World (Chicago 2022). 

Die Kunst der russischen Romanze
Lieder und Klavierwerke von Sergej Rachmaninow 

Philip Ross Bullock


Das westliche Publikum begegnet russischer Musik meist in der Oper oder im Symphoniekonzert. Tschaikowskys Eugen Onegin und Pique Dame, Mussorgskys Boris Godunow, Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk und Prokofjews Krieg und Frieden werden weltweit regelmäßig aufgeführt, und kaum ein Orchester hat nicht zumindest einige der sechs Symphonien von Tschaikowsky, der sieben Prokofjews oder der 15 von Schostakowitsch im Programm, ganz zu schweigen von symphonischen Dichtungen wie Tschaikowskys Romeo und Julia oder Mussorgskys Nacht auf dem kahlen Berge. Im Konzertrepertoire haben Solist:innen die Wahl zwischen Meisterwerken von Tschaikowsky, Prokofjew und Schostakowitsch.

Doch die Gattung, in der sich die meisten russischen Komponisten hervorgetan haben, nämlich das Lied, ist weitgehend unbekannt geblieben. Dabei war dieses Genre – man nennt es im Russischen Romanze – für das kulturelle Leben Russlands von ebenso zentraler Bedeutung wie das Lied in den deutschsprachigen Ländern oder die Mélodie in Frankreich. Und wie diese ist auch die russische Romanze eng mit der literarischen Entwicklung verknüpft. Sie entstand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Dichtung die vorherrschende literarische Gattung war. Es war das sogenannte Goldene Zeitalter, die Ära von Alexander Puschkin und Michail Lermontow, deren musikalisches Pendant Michail Glinka war, den Tschaikowsky später den „Keim“ nannte, „aus dem die Eiche der russischen Musik entsprang“. In nationalistischen Darstellungen wurde oft betont, wie viel Glinka der Volkskultur zu verdanken habe, doch tatsächlich bildete sich sein Stil während eines vierjährigen Aufenthalts in Mailand und Berlin heraus. Als er 1834 nach St. Petersburg zurückkehrte, wurde er zum festen Bestandteil der Salons, wo er zur Begeisterung der gesellschaftlichen Elite Russlands seine eigenen Lieder vortrug.

Tschaikowsky trat in Glinkas Fußstapfen und gab 1862 seine Karriere im russischen öffentlichen Dienst auf, um am neu gegründeten Konservatorium in St. Petersburg zu studieren. Wer ihn als jungen Mann gekannt hat, wäre von der Existenz seiner etwa 100 Romanzen überrascht gewesen. Ein Freund berichtete von Tschaikowskys Entschlossenheit, „niemals irgendwelche kleinen Klavierstücke oder Lieder zu schreiben. Über Letztere äußerte er sich mit der größten Abneigung.“ Doch wie derselbe Freund bemerkte, konnte sich der Komponist durchaus auch selbst widersprechen: „Im nächsten Augenblick schon redete er mit zunehmender Begeisterung über die Lieder von Glinka, Schumann oder Schubert.“ Sie waren nicht nur in schöpferischer Hinsicht reizvoll. Bei den vielen begabten Amateurmusiker: innen im gesamten Russischen Reich erfreuten sich Lieder größter Beliebtheit, und Tschaikowskys Verleger gab so viele wie möglich davon in Auftrag in der Gewissheit, sie gut verkaufen zu können. Tschaikowsky – stets knapp bei Kasse und zur Genusssucht neigend – erfüllte diese Bitte gerne.

Auftritt Rachmaninow

Obgleich Sergej Rachmaninow nie bei Tschaikowsky studiert hatte, wurde er wie selbstverständlich zum Nachfolger des älteren Komponisten auserkoren. Als seine (auf Puschkins Verserzählung Die Zigeuner basierende) Oper Aleko, die er noch als Student komponiert hatte, im Mai 1893 im Moskauer Bolschoi-Theater uraufgeführt wurde, saß Tschaikowsky im Publikum und applaudierte dem jungen Komponisten demonstrativ. Mit dem plötzlichen Tod Tschaikowskys im Herbst des gleichen Jahres verlor Rachmaninow einen wichtigen Mentor und Förderer – doch war damit auch der Weg frei, um selbst zum berühmtesten lebenden Musiker Russlands aufzusteigen. Als mittelloser Künstler, der am Beginn einer ungewissen beruflichen Laufbahn stand, brauchte er eine verlässliche Einnahmequelle. So schloss er einen Vertrag mit dem Verleger Gutheil, dem er die Treue hielt, bis er 1917 Russland verließ.

Zu den ersten von Rachmaninow veröffentlichten Werken gehörten Klavierminiaturen wie die Cinq Morceaux de Fantaisie op. 3 (darunter das allgegenwärtige Prélude cis-moll), die sieben Morceaux de Salon op. 10 und die sechs Moments Musicaux op. 16, die alle sehr bewusst auf den Amateurmarkt zugeschnitten waren. Außerdem komponierte er drei Liedsammlungen, die direkt an das Vermächtnis Tschaikowskys anknüpften. Mit den Sechs Liedern op. 4, den Sechs Liedern op. 8 (beide 1893) und den Zwölf Liedern op. 14 (1896) verfeinerte er nicht nur den mit Tschaikowsky (und vor ihm Glinka) verbundenen lyrischen Stil, sondern vertonte überdies teilweise dieselben Dichter und gelegentlich sogar dieselben Texte.

Neue Wege

Das Bild Rachmaninows als Konservativer, der der verlorenen romantischen Welt des 19. Jahrhunderts nachtrauert, hält sich hartnäckig. Es ist zwar ein Körnchen Wahrheit darin, doch wird damit auch übersehen, wie sensibel er auf neue Einflüsse reagierte. Nach der katastrophalen Uraufführung seiner Ersten Symphonie im März 1897 in St. Petersburg zog er das Werk zurück und verstummte als Komponist für mehrere Jahre. Durch eine Therapie bei dem Arzt Nikolai Dahl überwand er seine Depression, und die Heirat mit seiner Cousine Natalia Satina im Jahr 1902 bescherte ihm Gesellschaft, Verständnis und zwei von ihm innig geliebte Töchter, Irina und Tatiana.

Die um diese Zeit komponierten Werke gehören zu den ambitioniertesten, die er bis dahin geschrieben hatte – die Suite Nr. 2 für zwei Klaviere, das Zweite Klavierkonzert, die Sonate für Violoncello und Klavier, die Variationen über ein Thema von Chopin und die Zwölf Lieder op. 21. Die meisten dieser Lieder entstanden im Frühjahr 1902, und das großzügige Honorar, das er dafür von seinem Verleger erhielt, ermöglichte die dreimonatige Hochzeitsreise mit Natalia nach Österreich, Deutschland, Italien und in die Schweiz. Doch hinter den Liedern steckt mehr als nur finanzielle Interessen. Nachdem seine Erste Symphonie durchgefallen war, wurde Rachmaninow als Dirigent an die von dem Mäzen Sawwa Mamontow finanzierte Russische Privatoper in Moskau engagiert. Dort lernte er den bedeutenden dramatischen Bass Fjodor Schaljapin kennen, mit dem er die Titelrolle von Mussorgskys Boris Godunow einstudierte. Der eigensinnige und nicht akademisch ausgebildete Mussorgsky hatte sich vom geschliffenen-eleganten Stil Glinkas und Tschaikowskys abgewandt und versuchte stattdessen, das Wesen lebendiger, menschlicher Sprache zu vermitteln. Jedes seiner Lieder ist eine dramatische Miniaturszene, die eher dem wahren Leben als den Konventionen der Kunst verpflichtet ist.

Mussorgskys Einfluss auf Rachmaninow ist am besten hörbar im opernhaften Überschwang von Fragment nach A. Musset und Ich bin kein Prophet. Doch auch wenn er von Mussorgskys skrupulösem Umgang mit jeder einzelnen Silbe und jedem einzelnen Wort gelernt hatte, verlor Rachmaninow nie sein Gespür für emotionale Innerlichkeit. Auf den Tod eines Zeisigs besitzt eine charmante Sentimentalität, während Melodie von glühender Inbrunst durchdrungen ist. Fließende Klavierlinien wie in Sie antworteten erinnern daran, dass Rachmaninow ein virtuoser Pianist war. Gleichzeitig war er aber auch Grundbesitzer und kümmerte sich um das Landgut seiner Frau in Iwanowka in der Nähe von Tambow. Von seiner Liebe zur russischen Landschaft zeugen Zwielicht und Flieder. Es ist so schön hier schließlich zeichnet ein zartes musikalisches Portrait von Natalia, der das Lied gewidmet ist.

Zwei musikalische Frauen

Rachmaninow kehrte 1906 zur Liedkomposition zurück. Die Jahre zuvor hatte er am Bolschoi-Theater verbracht, wo er die Uraufführungen seiner eigenen Opern Der geizige Ritter und Francesca da Rimini dirigiert hatte. Erschöpft und auf der Suche nach neuer Inspiration ging er für eine längere Auszeit nach Dresden, wo er bis 1909 blieb. Die Kosten für den Umzug wurden durch einen zur rechten Zeit erteilten Auftrag von Arkadi und Maria Kerzin gedeckt, den Mäzenen einer Konzertreihe in Moskau. Die 15 Lieder op. 26 entstanden in gerade einmal vier Wochen. Wie nicht anders zu erwarten bei einem Komponisten, der so aktiv an der Oper tätig war und mit so vielen führenden Sänger:innen Russlands zusammengearbeitet hatte, sind viele davon ausgesprochen dramatisch. Wir werden ruhen ist die Vertonung von Sonjas letztem feierlichen Monolog in Tschechows Onkel Wanja, und Der Ring, wieder eine eigenständige Miniaturszene, beschwört lebhaft die Welt des traditionellen Volksglaubens herauf. Rachmaninow war bei politischen Themen im Allgemeinen eher zurückhaltend, die Wahl von Christ ist erstanden deutet jedoch auf eine gewisse Desillusionierung über den Zustand der russischen Gesellschaft im Gefolge der Revolution von 1905 hin, während Ich bin wieder allein ein trostloses Gefühl existenzieller Isolation artikuliert. Mit An meinem Fenster und Die Nacht ist trauervoll verabschiedete sich Rachmaninow wehmütig von seiner Heimat, die er bald verlassen würde, wenn auch nur vorübergehend.

Viele der Texte für diese Lieder hatte Maria Kerzina vorgeschlagen, was jedoch manche nicht davon abhielt, Rachmaninow einen mittelmäßigen literarischen Geschmack zu unterstellen. Im Frühjahr 1912 erhielt er den Brief einer anonymen Verehrerin, die diesen einfach mit „Re“ (der Note D in italienischer Terminologie) unterzeichnete. Er stammte von der symbolistischen Dichterin Marietta Schaginjan, die Kontakt mit Rachmaninow suchte, um seine Textauswahl gewissermaßen aufzufrischen, wobei ihm ihre Ideen nicht immer zusagten. Als er sich bei ihr für eine Anthologie zeitgenössischer Gedichte bedankte, erklärte er: „Einige davon gefallen mir, aber die meisten Gedichte finde ich fürchterlich.“ Dennoch hatte sie einen tiefgreifenden Einfluss auf die 15 Lieder op. 34. Darunter finden sich kraftvolle Interpretationen philosophischer Gedichte von Puschkin – Der Sturm und Arion – ebenso wie eine zurückhaltende Reaktion auf den parnassischen Text von Jakow Polonskis Musik und eine ebenso knappe wie flamboyante Vertonung von Apollon Maikows Es kann nicht sein. Der wandernde Wind nach einem Gedicht von Konstantin Balmont war eines der ersten Zugeständnisse Rachmaninows an die moderne Lyrik.

Die Lieder bedeuten auch eine Veränderung im musikalischen Stil des Komponisten. Wie die erste Gruppe der Études-Tableaux für Klavier, die ihnen unmittelbar vorausgingen, bedienen sie sich einer weitaus moderneren Sprache, als sie Rachmaninows Ruf als Spätromantiker erwarten ließe. Diese Entwicklung setzte sich in den Sechs Liedern op. 38, ebenfalls nach von Schaginjan vorgeschlagenen Texten, noch weiter fort. Sie entstanden zwischen September und November 1916 und greifen sechs Gedichte führender zeitgenössischer Dichter auf, die Rachmaninow allerdings eher mit nachdenklicher Sensibilität als mit selbstbewusster Experimentierfreude musikalisch umsetzte. Schließlich war er kein Arnold Schönberg oder Igor Strawinsky. Strawinsky hatte Rachmaninow bekanntlich als einen „ein Meter achtundneunzig großen Finsterling“ beschrieben, doch seine Vertonung von Gänseblümchen lässt erkennen, dass er einen sehr feinen Sinn für Humor hatte, und Traum deutet auf Emotionen hin, die sich nicht ohne Weiteres in Worte fassen lassen.

Lieder ohne Worte

Diese sechs Lieder sollten Rachmaninows letzte sein. Durch die Emigration riss die schöpferische Verbindung zur Sprache und zur Landschaft, die ihn bis dahin so tiefgreifend inspiriert hatten, ab. Er betätigte sich nun vor allem als Pianist und nahm bei den Tausenden von Konzerten, die er bis zu seinem Tod am 28. März 1943 gab, regelmäßig eigene Solokompositionen ins Programm auf. Seinem ersten, 1892 entstandenen Prélude (dem bereits erwähnten in cis-moll) fügte er später 23 weitere hinzu – eines in jeder Dur- und Molltonart –, wie es vor ihm Frédéric Chopin getan hatte. Die Préludes in G-Dur und gis-moll, die Teil des heutigen Programms sind, zeigen, wie geschickt Rachmaninow das Klavier zum „Singen“ bringen konnte. Zum h-moll-Prélude soll ihn das Gemälde Die Heimkehr von Arnold Böcklin angeregt haben (der bereits die symphonische Dichtung Die Toteninsel inspiriert hatte). Eine solche visuelle Komponente findet sich auch in den Zyklen der Études-Tableaux op. 33 und 39, die 1911 beziehungsweise 1916/17 entstanden. Gleichzeitig sind sie brillante technische Studien. Das a-moll-Werk op. 39 Nr. 6 (von dem Rachmaninow später erklärte, es erzähle die Geschichte von Rotkäppchen und dem Wolf) ist ein Bravourstück voller virtuoser Läufe und Figuren. Mit der Nr. 7 in c-moll beschwor der schon immer fatalistisch gesonnene Komponist die Atmosphäre eines feierlichen Begräbniszugs herauf.

Übersetzung: Sylvia Zirden

 

Philip Ross Bullock lehrt als Professor für Russische Literatur und Musik an der Universität Oxford. Er ist u.a. Autor der Monografie Pyotr Tchaikovsky (London 2016) und Herausgeber des Bandes Rachmaninoff and His World (Chicago 2022). 

Die Künstler:innen


Julia Lezhenva
Sopran

Julia Lezhneva wurde als Tochter zweier Geophysiker auf der russischen Insel Sachalin geboren und absolvierte ihr Studium am Moskauer Tschaikowsky Konservatorium. 2009 gewann sie als jüngste Preisträgerin in der Geschichte des Wettbewerbs die Paris Opera Competition; zwei Jahre später kürte sie das Magazin Opernwelt zur „Jungen Sängerin des Jahres“. Seitdem gastiert sie regelmäßig bei Orchestern wie der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, dem Gewandhausorchester, dem Orquesta Nacional de España sowie bei den Festspielen in Salzburg, Luzern, Schwetzingen, Schleswig-Holstein, bei der Mozartwoche Salzburg und bei Bayreuth Baroque. Große Erfolge feierte sie u.a. an der Staatsoper Hamburg, wo sie nach ihrem Debüt als Morgana in Händels Alcina auch in Agrippina, Rossinis Il barbiere di Siviglia und Mozarts Don Giovanni und Le nozze di Figaro zu erleben war. Weitere Höhepunkte der vergangenen Jahre waren erste Engagements bei den Berliner Philharmonikern, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, am Wiener Musikverein sowie an der Mailänder Scala in Nicola Porporas Carlo il Calvo. Julia Lezhneva hat zahlreiche hochgelobte CD-Aufnahmen vorgelegt, für die sie u.a. mit Künstlern wie Franco Fagioli, Diego Fasolis, Max Emanuel Cencic, Philippe Jaroussky and den Ensembles Il giardino armonico und I barocchisti zusammengearbeitet hat. Für ihr jüngstes Album Visiting Rachmaninoff hat sie gemeinsam mit Alexander Melnikov Lieder des russischen Komponisten in dessen Villa Senar nahe Luzern aufgenommen.

Oktober 2025


Alexander Melnikov
Klavier

Alexander Melnikov absolvierte sein Studium am Moskauer Tschaikowsky Konservatorium bei Lev Naumov. Großen Einfluss auf seine künstlerische Entwicklung hatte außerdem die Begegnung mit Swjatoslaw Richter. Schon früh setzte er sich mit historischer Aufführungspraxis auseinander, wobei er wichtige Impulse von Andreas Staier und Alexej Lubimov erhielt. Er steht regelmäßig mit Ensembles wie der Akademie für Alte Musik Berlin, dem Freiburger Barockorchester und dem Orchestre des Champs-Élysées auf der Bühne. Als Solist war er außerdem beim Concertgebouworchester Amsterdam, dem Gewandhausorchester Leipzig, dem NDR Elbphilharmonie Orchester, dem London Philharmonic Orchestra, dem Philadelphia Orchestra und dem Mahler Chamber Orchestra zu Gast und arbeitete dabei mit Dirigenten wie Mikhail Pletnev, Teodor Currentzis, Paavo Järvi und vielen anderen zusammen. Zu seinen regelmäßigen Kammermusikpartner:innen zählen u.a. Jean-Guihen Queyras und Isabelle Faust, mit der er eine Einspielung sämtlicher Violinsonaten von Beethoven vorlegte, die mit dem Gramophone Award ausgezeichnet und für einen Grammy nominiert wurde. Höhepunkte der aktuellen Spielzeit sind Auftritte mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester, dem Oslo Philharmonic Orchestra, dem Orchestre de Chambre de Paris sowie mit der Akademie für Alte Musik Berlin und dem Klavierkonzert von Emilie Mayer im Pierre Boulez Saal Ende dieses Monats.

Oktober 2025

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