Michael Barenboim Violine und Viola
Gilbert Nouno Electronic Music Design

Benjamin Attahir
Retour à Tipasa für Violine und Live-Elektronik

Naji Hakim
Évocation et Tarentelle für Violine solo

Philippe Manoury
Partita II für Violine und Live-Elektronik

Layale Chaker
Before Bloom für Violoncello solo
Bearbeitung für Viola solo

Kareem Roustom
Pavane (pour les enfants défunts) 
für Viola und Live-Elektronik

Pierre Boulez
Anthèmes 2  für Violine und Live-Elektronik

Benjamin Attahir (*1989)
Retour à Tipasa
für Violine und Live-Elektronik (2011)

 

Naji Hakim (*1955)
Évocation et Tarentelle 
für Violine solo (2023)

 

Philippe Manoury (*1952)
Partita II 
für Violine und Live-Elektronik (2012)

 

Pause

 

Layale Chaker (*1990)
Before Bloom
für Violoncello solo (2022)
Bearbeitung für Viola solo

 

Kareem Roustom (*1971)
Pavane (pour les enfants défunts)
für Viola und Live-Elektronik (2024)

 

Pierre Boulez (1925–2016)
Anthèmes 2 
für Violine und Live-Elektronik (1997)

Libre –
I. Très lent, avec beaucoup de flexibilité – 
Libre –
II. Rapide, dynamique, très rythmique, rigide – 
Libre –
III. Lent, régulier – Nerveux, irrégulier – 
Libre –
IV. Agité, instable – Rythmiquement stable –
Libre –
V. Très lent, avec beaucoup de flexibilité – 
Subitement nerveux et extrêmement irrégulier – 
Libre –
VI. 1. Allant, assez serré dans le tempo –
2. Calme, régulier – Agité – Brusque –
3. Calme, sans traîner, d’un mouvement très régulier – 
Libre

Benjamin Attahir (*1989)
Retour à Tipasa
für Violine und Live-Elektronik (2011)

 

Naji Hakim (*1955)
Évocation et Tarentelle 
für Violine solo (2023)

 

Philippe Manoury (*1952)
Partita II 
für Violine und Live-Elektronik (2012)

 

Pause

 

Layale Chaker (*1990)
Before Bloom
für Violoncello solo (2022)
Bearbeitung für Viola solo

 

Kareem Roustom (*1971)
Pavane (pour les enfants défunts)
für Viola und Live-Elektronik (2024)

 

Pierre Boulez (1925–2016)
Anthèmes 2 
für Violine und Live-Elektronik (1997)

Libre –
I. Très lent, avec beaucoup de flexibilité – 
Libre –
II. Rapide, dynamique, très rythmique, rigide – 
Libre –
III. Lent, régulier – Nerveux, irrégulier – 
Libre –
IV. Agité, instable – Rythmiquement stable –
Libre –
V. Très lent, avec beaucoup de flexibilité – 
Subitement nerveux et extrêmement irrégulier – 
Libre –
VI. 1. Allant, assez serré dans le tempo –
2. Calme, régulier – Agité – Brusque –
3. Calme, sans traîner, d’un mouvement très régulier – 
Libre

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Layale Chaker  (© Anna Rakhvalova)

Ein Raum als Partner – das ist der Pierre Boulez Saal. Mit seiner singulären elliptischen Form ist er mehr als ein architektonischer „Behälter“ für Musik. Er ist Mitspieler. Seine Akustik macht nicht nur reine Live-Musik zu einem besonderen Hörerlebnis, sondern auch Kompositionen mit elektronischen Ebenen geradezu körperlich erfahrbar – als Bewegung im Raum, Präsenz hinter, über oder neben dem Publikum.

Essay von Anne do Paço

Resonanzen der Gegenwart
Musik für Violine und Viola mit Elektronik

Anne do Paço


Ein Raum als Partner – das ist der Pierre Boulez Saal. Mit seiner singulären elliptischen Form ist er mehr als ein architektonischer „Behälter“ für Musik. Er ist Mitspieler. Seine Akustik macht nicht nur reine Live-Musik zu einem besonderen Hörerlebnis, sondern auch Kompositionen mit elektronischen Ebenen geradezu körperlich erfahrbar – als Bewegung im Raum, Präsenz hinter, über oder neben dem Publikum. Ein idealer Ort also für ein Konzert mit Michael Barenboim und Gilbert Nouno, das mit Anthèmes 2 seinen Namensgeber Pierre Boulez ehrt und die mächtige, vor 100 Jahren geborene Vaterfigur der Nachkriegsavantgarde mit zeitgenössischen Komponist:innen unterschiedlicher Herkunft in einen vibrierenden Dialog bringt: „von Boulez, der Elektronik als eine Art Multiplikator einsetzt, über Philippe Manourys komplexeren Ansatz, bei dem man sich fragt, ob man wirklich all diese Dinge gleichzeitig hört, bis hin zu Kareem Roustom, der sie als eine Ebene nutzt, auf der die Musik zu schweben scheint“, so erklärt Michael Barenboim über sein Programm. Werke von Benjamin Attahir, Naji Hakim und Layale Chaker erweitern diesen Kosmos zu einem vielstimmigen „Gespräch“ zwischen unterschiedlichen Kulturen und zugleich einem starken Zeichen gegen Unmenschlichkeit, Krieg und Unterdrückung.

„Lichtfülle des Steingetrümmers“
Benjamin Attahirs Retour à Tipasa


„Im Frühling wohnen in Tipasa die Götter. Sie reden durch die Sonne und durch den Duft der Wermutsträucher, durch den Silberkürass des Meeres, den grellblauen Himmel, die blumenübersäten Ruinen und die Lichtfülle des Steingetrümmers. Zu gewissen Stunden ist das Land schwarz vor lauter Sonne. Vergebens suchen die Augen mehr festzuhalten als die leuchtenden Farbtropfen, die an den Wimpern zittern. Der herbe Geruch der Kräuter kratzt in der Kehle und benimmt in der ungeheuren Hitze den Atem.“ Diese bildgewaltige Passage – Liebeserklärung an die Landschaft Algeriens, aber auch Auseinandersetzung mit der menschlichen Sterblichkeit – aus Albert Camus’ autobiografischem Essay Noces à Tipasa (Hochzeit in Tipasa) ist Grundlage von Benjamin Attahirs 2010 entstandenem Retour à Tipasa. Der 1989 in Toulouse geborene, französisch-libanesische Komponist war einer der letzten Studenten von Pierre Boulez. In seinem Stück verbinden sich flirrende Klänge mit arabisch gefärbten Melodiefragmenten zu einem großen Klanggemälde, in dem die von Camus beschriebene Landschaft mit ihren Farben, Düften und ihrem Licht hörbar wird. Die mit der Stimme der Violine dicht verwobene Live-Elektronik erweitert den Klangraum, verstärkt Resonanzen und verleiht der Musik durch Überlagerungen ihre großen räumlichen Dimensionen.

Introspektion und Befreiung
Naji Hakims Évocation et Tarentelle


Naji Hakims Schaffen spannt sich zwischen seinem eigenen Komponieren und seiner Tätigkeit als einer der bedeutendsten Organisten seiner Generation auf. 1955 in Beirut geboren, studierte er bei Jean Langlais am Pariser Konservatorium und war von 1993 bis 2008 Nachfolger Olivier Messiaens als Titularorganist an der Pariser Église de la Sainte-Trinité. In seinen Kompositionen sucht er nach einer universellen Sprache durch die Vereinigung der musikalischen Traditionen seiner libanesischen Heimat mit dem westlichen Kunstmusikkanon und sieht sich inmitten der aktuellen politischen Krisen in einer Mission: „Unsere Aufgabe ist es, Baumeister zu sein angesichts der Zerstörer dieser Erde. […] Die Kunst muss dazu beitragen, muss ein Mittel sein, dieses Lächeln, diese Hoffnung und diesen Glauben an eine bessere Welt auszudrücken.“ Seine Botschaft spiegelt sich in seinen groß besetzten Orchesterwerken ebenso wie in seinen Kammermusiken, wie eines seiner jüngsten Werke zeigt: das 2023 in Beirut entstandene Violinsolo Évocation et Tarentelle. Der introvertierte erste Satz wird von einer verinnerlichten, gebetsartig schwebenden und mit feiner Expressivität modellierten Melodie geprägt – einem Nachspüren und Beschwören von Erinnerungen. Angeregt durch den für Vitalität, Ausbruch und Exzess stehenden süditalienischen Volkstanz der Tarantella folgt mit virtuosen, sprunghaften Arpeggien und mitreißender Energie ein lebensfrohes Fest der Bewegung.

Interaktive Klangprozesse
Philippe Manourys Partita II


Der 1952 im französischen Tulle geborene Philippe Manoury zählt nicht nur zu den bedeutendsten französischen Komponisten der Gegenwart, sondern ist einer der Vorreiter der Echtzeit-Elektronik. Mit Boulez teilt er die Konzeption von Form als Resultat spezifischer Entwicklungen. Der Einfluss von Iannis Xenakis spiegelt sich dagegen in Manourys modellierendem Zugriff auf Klänge und Texturen. Ab den 1980er Jahren entwickelte er am Pariser IRCAM gemeinsam mit Miller Puckette Grundlagen des interaktiven Livemusizierens – darunter die Software MAX/MSP. Seine 2012 für die Geigerin Hae-Sun Kang entstandene Partita II steht im heutigen Programm exemplarisch für Manourys Forschungen an den Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine, Geste und Algorithmus, Klang und Raum. Die Violine ist in Partita II weit mehr als ein Soloinstrument: Sie ist Motor, Navigatorin und Sinngeberin eines interaktiven, sich in Echtzeit entwickelnden Klangprozesses, in dem die Elektronik mit komplexen Algorithmen unmittelbar auf ihr Spiel reagierend als gleichberechtigter Partner erscheint. Aus kurzen, tastenden Gesten entwickeln sich nach und nach mehrere Klangschichten und bewegen sich in voneinander unabhängigen Tempi. Der Verlauf gleicht einer kontrollierten Entfaltung: Die Elektronik wächst, dehnt sich aus und verstummt. „Am Ende des Stückes“, erläutert Manoury, „bleibt die Violine allein mit einem ‚toupie sonore‘ zurück“, einem rotierenden akustischen Körper, „wie ein Zauberer, der mit in der Luft schwebenden Elementen jongliert“.

Blühender Widerstand
Before Bloom von Layale Chaker


Eine Viola wird zur metaphorischen Stimme der Natur. Aus fragilen, verletzlichen Linien entwickelt sich eine innere Kraft – ein stetes Werden trotz widriger Umstände. In Before Bloom, 2022 ursprünglich im Auftrag von Matt Haimovitz für Violoncello solo komponiert, entwirft Layale Chaker einen musikalischen Raum zwischen Widerstand, Erinnerung und sich immer wieder regenerierender Natur. Mit dem Titel spielt die 1990 in Paris geborene und im Libanon aufgewachsene Komponistin und Geigerin auf das berühmte, in den 1480er Jahren entstandene Gemälde Primavera des italienischen Renaissance-Künstlers Sandro Botticelli an – nicht als historische Referenz, sondern als poetisches Echo: „Geschrieben während der Unruhen, die Palästina im Frühjahr [2021] erlebte, bietet Before Bloom eine alternative Lesart von Botticellis Primavera. Als Echo auf das ‚Chiaroscuro‘, das sich in den dunklen und doch leuchtenden Details der Flora zeigt, webt dieses Werk eine Resonanz zwischen Botticellis Blättern und der Vegetation des Landes, die seit Jahrtausenden ein stummer und doch präsenter Zeuge ist, das Leiden der Menschen beobachtend und doch jedes Jahr im Frühling aufs Neue erblühend, voller Trotz und Widerstandskraft – so, wie es die Natur stets und unfehlbar vermag“, schreibt Chaker über ihre Komposition.

An Aktualität hat dieses Nachdenken über Verletzlichkeit und Erneuerung nichts verloren – gerade angesichts der Krisen und Kriege, die auch 2025 die Welt erschüttern. Doch Chakers Stimme ist nicht die einer Aktivistin, sondern die einer Künstlerin. Mit ihrem französisch-libanesischen Hintergrund behauptet sie eine subtile, aber kraftvolle Haltung der Selbstbestimmung – jenseits politischer Zuschreibungen und kultureller Stereotype: „Ich möchte einfach als Musikerin gesehen werden, ohne dass Herkunft oder Geschlecht vorgestellte Rollen definieren.“ Ihre integrative Kompositionsweise bewegt sich an den Schnittstellen von zeitgenössischer Musik, Jazz, arabischen Maqamat und Improvisation. Im Aufeinandertreffen dieser verschiedenen Einflüsse, alter Traditionen und gegenwärtiger Stimmen setzt Chaker auf Gemeinschaft statt Konkurrenz und Abgrenzung.

Den verstorbenen Kindern
Kareem Roustoms Pavane (pour les enfants défunts)


Als einen Dialog der Kulturen begreift auch der 1971 in Damaskus geborene und als Jugendlicher in die USA übersiedelte Kareem Roustom sein Schaffen. Er ist in der traditionellen arabischen Musik ebenso verwurzelt wie in der klassischen europäischen Moderne, arbeitet für Film und Fernsehen, schreibt für Stars wie Shakira oder Beyoncé, aber auch für große Symphonieorchester und internationale Festivals. Daneben tritt er selbst als Oud-Spieler auf.

Viele seiner Werke greifen gesellschaftspolitische Themen auf – so auch die von Michael Barenboim angeregte und vom Pierre Boulez Saal in Auftrag gegebene Pavane (pour les enfants défunts), die hier im Dezember 2024 von Barenboim und Gilbert Nouno uraufgeführt wurde. Der Titel ist eine Anspielung auf Maurice Ravels Pavane pour une infante défunte, die Roustom in eine Trauermusik zum Gedenken an alle durch Krieg und Gewalt verstorbenen Kinder („les enfants défunts“) transformiert. „Der erste Teil basiert auf einer Eröffnungsgeste, die sich entwickelt und sowohl in der Bratsche als auch in der Elektronik zu einem frenetischen Höhepunkt steigert, woraufhin eine Art Ruhe einkehrt“, schreibt Roustom. „Der letzte Abschnitt verwendet den Rhythmus von Ravels falscher ‚Pavane‘. In meinem Werk ist er auf einem leicht verstimmten und bearbeiteten ‚Klavier‘-Patch zu hören, während die Viola über diesem mit einer absteigenden chromatischen und mikrotonalen Figur ‚weint‘. Diese Passage ist mit ‚con espressione di patimento‘ (‚mit klagendem Ausdruck‘) bezeichnet.“ Die Live-Elektronik erweitert den Klangraum der Viola, folgt ihr wie ein Schatten, vervielfältigt ihre Stimme zum Echo und verleiht ihrem klagenden Gestus eine geradezu körperlose Aura.

Im Labyrinth der Klänge und Strukturen
Pierre Boulez’ Anthèmes 2


Dass Pierre Boulez’ Werkverzeichnis vergleichsweise überschaubar blieb, liegt nicht nur an seiner intensiven Tätigkeit als Dirigent, Leiter des Ensemble intercontemporain, Gründer des Pariser Elektronikstudios IRCAM und prägende Figur der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik. Ebenso entscheidend war seine äußerst konzentrierte Arbeitsweise: Viele Partituren entstanden über Jahrzehnte hinweg als „work in progress“, oft in Zyklen, bei denen ein Stück aus einem anderen hervorgeht. So entfaltet sich Boulez’ Schaffen als vielschichtiges Geflecht, in dem sich sein musikalisches Denken in immer neuen Belichtungen grundlegender Motive zeigt.

Anthèmes 2 für Solovioline und Live-Elektronik gehört zu einer Werkgruppe um das seit 1971 immer weiter gedachte …explosante-fixe… und setzt die 1991 entstandene Komposition Anthèmes 1 für Solovioline fort. Die Uraufführung fand am 19. Oktober 1997 bei den Donaueschinger Musiktagen mit der Geigerin Hae Sun Kang und in der Realisierung der Live-Elektronik durch IRCAM statt. Der Titel spielt auf die großen, in der Liturgie der anglikanischen Kirche beheimateten Anthem-Kompositionen von Thomas Tallis, Henry Purcell oder Georg Friedrich Händel an und zugleich auf das französische „en thèmes“, also eine von Themen bestimmte Formkonzeption, mit der sich Boulez auch theoretisch intensiv beschäftigte. Beiden Anthèmes-Stücken liegt eine siebentönige Reihe zugrunde, die Boulez bereits zu Beginn von …explosante-fixe… zusammen mit sechs als „Transitoires“ bezeichneten Variationen skizzierte. Dieses Material diente ihm über zwei Jahrzehnte hinweg als Keim, er selbst sprach von einem „Samenkorn“: „Man pflanzt es in eine bestimmte Erde und plötzlich vermehrt es sich wie Unkraut. Dann muss man jäten.“

Anthèmes 2 entfaltet sich als akustische Wanderung durch ein labyrinthisches Geflecht: freie Passagen („libre“), in denen das Tonmaterial pur erscheint, wechseln mit sechs strophenartigen Metamorphosen, die höchste spieltechnische Anforderungen stellen. Die Live-Elektronik, in Echtzeit generiert, bezeichnet Boulez als „Verlagerung der Aktionsfelder“. Sie öffnet den Klang zum einen über die Grenzen des Instruments hinaus, zum anderen löst sie ihn von einem fixierten Ort, indem er in verschiedene Positionen des Raumes projiziert wird – in der elliptischen Architektur des Pierre Boulez Saals ein faszinierendes Hörerlebnis.


Anne do Paço studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Germanistik in Berlin. Nach Engagements am Staatstheater Mainz, an der Deutschen Oper am Rhein und beim Wiener Staatsballett ist sie seit 2025 Dramaturgin an der Staatsoper Hannover. Sie veröffentlichte Aufsätze zur Musik- und Tanzgeschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts und war als Autorin u.a. für die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, das Wiener Konzerthaus und die Opéra National de Paris tätig.

Resonanzen der Gegenwart
Musik für Violine und Viola mit Elektronik

Anne do Paço


Ein Raum als Partner – das ist der Pierre Boulez Saal. Mit seiner singulären elliptischen Form ist er mehr als ein architektonischer „Behälter“ für Musik. Er ist Mitspieler. Seine Akustik macht nicht nur reine Live-Musik zu einem besonderen Hörerlebnis, sondern auch Kompositionen mit elektronischen Ebenen geradezu körperlich erfahrbar – als Bewegung im Raum, Präsenz hinter, über oder neben dem Publikum. Ein idealer Ort also für ein Konzert mit Michael Barenboim und Gilbert Nouno, das mit Anthèmes 2 seinen Namensgeber Pierre Boulez ehrt und die mächtige, vor 100 Jahren geborene Vaterfigur der Nachkriegsavantgarde mit zeitgenössischen Komponist:innen unterschiedlicher Herkunft in einen vibrierenden Dialog bringt: „von Boulez, der Elektronik als eine Art Multiplikator einsetzt, über Philippe Manourys komplexeren Ansatz, bei dem man sich fragt, ob man wirklich all diese Dinge gleichzeitig hört, bis hin zu Kareem Roustom, der sie als eine Ebene nutzt, auf der die Musik zu schweben scheint“, so erklärt Michael Barenboim über sein Programm. Werke von Benjamin Attahir, Naji Hakim und Layale Chaker erweitern diesen Kosmos zu einem vielstimmigen „Gespräch“ zwischen unterschiedlichen Kulturen und zugleich einem starken Zeichen gegen Unmenschlichkeit, Krieg und Unterdrückung.

„Lichtfülle des Steingetrümmers“
Benjamin Attahirs Retour à Tipasa


„Im Frühling wohnen in Tipasa die Götter. Sie reden durch die Sonne und durch den Duft der Wermutsträucher, durch den Silberkürass des Meeres, den grellblauen Himmel, die blumenübersäten Ruinen und die Lichtfülle des Steingetrümmers. Zu gewissen Stunden ist das Land schwarz vor lauter Sonne. Vergebens suchen die Augen mehr festzuhalten als die leuchtenden Farbtropfen, die an den Wimpern zittern. Der herbe Geruch der Kräuter kratzt in der Kehle und benimmt in der ungeheuren Hitze den Atem.“ Diese bildgewaltige Passage – Liebeserklärung an die Landschaft Algeriens, aber auch Auseinandersetzung mit der menschlichen Sterblichkeit – aus Albert Camus’ autobiografischem Essay Noces à Tipasa (Hochzeit in Tipasa) ist Grundlage von Benjamin Attahirs 2010 entstandenem Retour à Tipasa. Der 1989 in Toulouse geborene, französisch-libanesische Komponist war einer der letzten Studenten von Pierre Boulez. In seinem Stück verbinden sich flirrende Klänge mit arabisch gefärbten Melodiefragmenten zu einem großen Klanggemälde, in dem die von Camus beschriebene Landschaft mit ihren Farben, Düften und ihrem Licht hörbar wird. Die mit der Stimme der Violine dicht verwobene Live-Elektronik erweitert den Klangraum, verstärkt Resonanzen und verleiht der Musik durch Überlagerungen ihre großen räumlichen Dimensionen.

Introspektion und Befreiung
Naji Hakims Évocation et Tarentelle


Naji Hakims Schaffen spannt sich zwischen seinem eigenen Komponieren und seiner Tätigkeit als einer der bedeutendsten Organisten seiner Generation auf. 1955 in Beirut geboren, studierte er bei Jean Langlais am Pariser Konservatorium und war von 1993 bis 2008 Nachfolger Olivier Messiaens als Titularorganist an der Pariser Église de la Sainte-Trinité. In seinen Kompositionen sucht er nach einer universellen Sprache durch die Vereinigung der musikalischen Traditionen seiner libanesischen Heimat mit dem westlichen Kunstmusikkanon und sieht sich inmitten der aktuellen politischen Krisen in einer Mission: „Unsere Aufgabe ist es, Baumeister zu sein angesichts der Zerstörer dieser Erde. […] Die Kunst muss dazu beitragen, muss ein Mittel sein, dieses Lächeln, diese Hoffnung und diesen Glauben an eine bessere Welt auszudrücken.“ Seine Botschaft spiegelt sich in seinen groß besetzten Orchesterwerken ebenso wie in seinen Kammermusiken, wie eines seiner jüngsten Werke zeigt: das 2023 in Beirut entstandene Violinsolo Évocation et Tarentelle. Der introvertierte erste Satz wird von einer verinnerlichten, gebetsartig schwebenden und mit feiner Expressivität modellierten Melodie geprägt – einem Nachspüren und Beschwören von Erinnerungen. Angeregt durch den für Vitalität, Ausbruch und Exzess stehenden süditalienischen Volkstanz der Tarantella folgt mit virtuosen, sprunghaften Arpeggien und mitreißender Energie ein lebensfrohes Fest der Bewegung.

Interaktive Klangprozesse
Philippe Manourys Partita II


Der 1952 im französischen Tulle geborene Philippe Manoury zählt nicht nur zu den bedeutendsten französischen Komponisten der Gegenwart, sondern ist einer der Vorreiter der Echtzeit-Elektronik. Mit Boulez teilt er die Konzeption von Form als Resultat spezifischer Entwicklungen. Der Einfluss von Iannis Xenakis spiegelt sich dagegen in Manourys modellierendem Zugriff auf Klänge und Texturen. Ab den 1980er Jahren entwickelte er am Pariser IRCAM gemeinsam mit Miller Puckette Grundlagen des interaktiven Livemusizierens – darunter die Software MAX/MSP. Seine 2012 für die Geigerin Hae-Sun Kang entstandene Partita II steht im heutigen Programm exemplarisch für Manourys Forschungen an den Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine, Geste und Algorithmus, Klang und Raum. Die Violine ist in Partita II weit mehr als ein Soloinstrument: Sie ist Motor, Navigatorin und Sinngeberin eines interaktiven, sich in Echtzeit entwickelnden Klangprozesses, in dem die Elektronik mit komplexen Algorithmen unmittelbar auf ihr Spiel reagierend als gleichberechtigter Partner erscheint. Aus kurzen, tastenden Gesten entwickeln sich nach und nach mehrere Klangschichten und bewegen sich in voneinander unabhängigen Tempi. Der Verlauf gleicht einer kontrollierten Entfaltung: Die Elektronik wächst, dehnt sich aus und verstummt. „Am Ende des Stückes“, erläutert Manoury, „bleibt die Violine allein mit einem ‚toupie sonore‘ zurück“, einem rotierenden akustischen Körper, „wie ein Zauberer, der mit in der Luft schwebenden Elementen jongliert“.

Blühender Widerstand
Before Bloom von Layale Chaker


Eine Viola wird zur metaphorischen Stimme der Natur. Aus fragilen, verletzlichen Linien entwickelt sich eine innere Kraft – ein stetes Werden trotz widriger Umstände. In Before Bloom, 2022 ursprünglich im Auftrag von Matt Haimovitz für Violoncello solo komponiert, entwirft Layale Chaker einen musikalischen Raum zwischen Widerstand, Erinnerung und sich immer wieder regenerierender Natur. Mit dem Titel spielt die 1990 in Paris geborene und im Libanon aufgewachsene Komponistin und Geigerin auf das berühmte, in den 1480er Jahren entstandene Gemälde Primavera des italienischen Renaissance-Künstlers Sandro Botticelli an – nicht als historische Referenz, sondern als poetisches Echo: „Geschrieben während der Unruhen, die Palästina im Frühjahr [2021] erlebte, bietet Before Bloom eine alternative Lesart von Botticellis Primavera. Als Echo auf das ‚Chiaroscuro‘, das sich in den dunklen und doch leuchtenden Details der Flora zeigt, webt dieses Werk eine Resonanz zwischen Botticellis Blättern und der Vegetation des Landes, die seit Jahrtausenden ein stummer und doch präsenter Zeuge ist, das Leiden der Menschen beobachtend und doch jedes Jahr im Frühling aufs Neue erblühend, voller Trotz und Widerstandskraft – so, wie es die Natur stets und unfehlbar vermag“, schreibt Chaker über ihre Komposition.

An Aktualität hat dieses Nachdenken über Verletzlichkeit und Erneuerung nichts verloren – gerade angesichts der Krisen und Kriege, die auch 2025 die Welt erschüttern. Doch Chakers Stimme ist nicht die einer Aktivistin, sondern die einer Künstlerin. Mit ihrem französisch-libanesischen Hintergrund behauptet sie eine subtile, aber kraftvolle Haltung der Selbstbestimmung – jenseits politischer Zuschreibungen und kultureller Stereotype: „Ich möchte einfach als Musikerin gesehen werden, ohne dass Herkunft oder Geschlecht vorgestellte Rollen definieren.“ Ihre integrative Kompositionsweise bewegt sich an den Schnittstellen von zeitgenössischer Musik, Jazz, arabischen Maqamat und Improvisation. Im Aufeinandertreffen dieser verschiedenen Einflüsse, alter Traditionen und gegenwärtiger Stimmen setzt Chaker auf Gemeinschaft statt Konkurrenz und Abgrenzung.

Den verstorbenen Kindern
Kareem Roustoms Pavane (pour les enfants défunts)


Als einen Dialog der Kulturen begreift auch der 1971 in Damaskus geborene und als Jugendlicher in die USA übersiedelte Kareem Roustom sein Schaffen. Er ist in der traditionellen arabischen Musik ebenso verwurzelt wie in der klassischen europäischen Moderne, arbeitet für Film und Fernsehen, schreibt für Stars wie Shakira oder Beyoncé, aber auch für große Symphonieorchester und internationale Festivals. Daneben tritt er selbst als Oud-Spieler auf.

Viele seiner Werke greifen gesellschaftspolitische Themen auf – so auch die von Michael Barenboim angeregte und vom Pierre Boulez Saal in Auftrag gegebene Pavane (pour les enfants défunts), die hier im Dezember 2024 von Barenboim und Gilbert Nouno uraufgeführt wurde. Der Titel ist eine Anspielung auf Maurice Ravels Pavane pour une infante défunte, die Roustom in eine Trauermusik zum Gedenken an alle durch Krieg und Gewalt verstorbenen Kinder („les enfants défunts“) transformiert. „Der erste Teil basiert auf einer Eröffnungsgeste, die sich entwickelt und sowohl in der Bratsche als auch in der Elektronik zu einem frenetischen Höhepunkt steigert, woraufhin eine Art Ruhe einkehrt“, schreibt Roustom. „Der letzte Abschnitt verwendet den Rhythmus von Ravels falscher ‚Pavane‘. In meinem Werk ist er auf einem leicht verstimmten und bearbeiteten ‚Klavier‘-Patch zu hören, während die Viola über diesem mit einer absteigenden chromatischen und mikrotonalen Figur ‚weint‘. Diese Passage ist mit ‚con espressione di patimento‘ (‚mit klagendem Ausdruck‘) bezeichnet.“ Die Live-Elektronik erweitert den Klangraum der Viola, folgt ihr wie ein Schatten, vervielfältigt ihre Stimme zum Echo und verleiht ihrem klagenden Gestus eine geradezu körperlose Aura.

Im Labyrinth der Klänge und Strukturen
Pierre Boulez’ Anthèmes 2


Dass Pierre Boulez’ Werkverzeichnis vergleichsweise überschaubar blieb, liegt nicht nur an seiner intensiven Tätigkeit als Dirigent, Leiter des Ensemble intercontemporain, Gründer des Pariser Elektronikstudios IRCAM und prägende Figur der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik. Ebenso entscheidend war seine äußerst konzentrierte Arbeitsweise: Viele Partituren entstanden über Jahrzehnte hinweg als „work in progress“, oft in Zyklen, bei denen ein Stück aus einem anderen hervorgeht. So entfaltet sich Boulez’ Schaffen als vielschichtiges Geflecht, in dem sich sein musikalisches Denken in immer neuen Belichtungen grundlegender Motive zeigt.

Anthèmes 2 für Solovioline und Live-Elektronik gehört zu einer Werkgruppe um das seit 1971 immer weiter gedachte …explosante-fixe… und setzt die 1991 entstandene Komposition Anthèmes 1 für Solovioline fort. Die Uraufführung fand am 19. Oktober 1997 bei den Donaueschinger Musiktagen mit der Geigerin Hae Sun Kang und in der Realisierung der Live-Elektronik durch IRCAM statt. Der Titel spielt auf die großen, in der Liturgie der anglikanischen Kirche beheimateten Anthem-Kompositionen von Thomas Tallis, Henry Purcell oder Georg Friedrich Händel an und zugleich auf das französische „en thèmes“, also eine von Themen bestimmte Formkonzeption, mit der sich Boulez auch theoretisch intensiv beschäftigte. Beiden Anthèmes-Stücken liegt eine siebentönige Reihe zugrunde, die Boulez bereits zu Beginn von …explosante-fixe… zusammen mit sechs als „Transitoires“ bezeichneten Variationen skizzierte. Dieses Material diente ihm über zwei Jahrzehnte hinweg als Keim, er selbst sprach von einem „Samenkorn“: „Man pflanzt es in eine bestimmte Erde und plötzlich vermehrt es sich wie Unkraut. Dann muss man jäten.“

Anthèmes 2 entfaltet sich als akustische Wanderung durch ein labyrinthisches Geflecht: freie Passagen („libre“), in denen das Tonmaterial pur erscheint, wechseln mit sechs strophenartigen Metamorphosen, die höchste spieltechnische Anforderungen stellen. Die Live-Elektronik, in Echtzeit generiert, bezeichnet Boulez als „Verlagerung der Aktionsfelder“. Sie öffnet den Klang zum einen über die Grenzen des Instruments hinaus, zum anderen löst sie ihn von einem fixierten Ort, indem er in verschiedene Positionen des Raumes projiziert wird – in der elliptischen Architektur des Pierre Boulez Saals ein faszinierendes Hörerlebnis.


Anne do Paço studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Germanistik in Berlin. Nach Engagements am Staatstheater Mainz, an der Deutschen Oper am Rhein und beim Wiener Staatsballett ist sie seit 2025 Dramaturgin an der Staatsoper Hannover. Sie veröffentlichte Aufsätze zur Musik- und Tanzgeschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts und war als Autorin u.a. für die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, das Wiener Konzerthaus und die Opéra National de Paris tätig.

Die Künstler


Michael Barenboim
Violine und Viola

Der in Paris geborene und in Berlin aufgewachsene Michael Barenboim ist als Solist und Kammermusiker auf Violine und Viola gleichermaßen erfolgreich. Der internationale Durchbruch gelang ihm 2011 mit dem Violinkonzert von Arnold Schönberg unter der Leitung von Pierre Boulez, mit dem ihn eine langjährige künstlerische und persönliche Freundschaft verband. Seitdem ist er mit renommierten Orchestern wie den Wiener und Berliner Philharmonikern, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, der Accademia Nazionale di Santa Cecilia, der Filarmonica della Scala, dem Philharmonia Orchestra, dem Tonhalle-Orchester Zürich, dem Orchestre de Paris, dem Los Angeles Philharmonic und dem Chicago Symphony Orchestra aufgetreten. Dabei arbeitete er mit Dirigenten wie Zubin Mehta, Gustavo Dudamel und seinem Vater Daniel Barenboim zusammen. Er ist Konzertmeister des West-Eastern Divan Orchestra und rief im Jahr 2019 das West-Eastern Divan Ensemble ins Leben, das regelmäßig Tourneen durch Europa, Asien und Nordamerika unternimmt. Gemeinsam mit einer Gruppe palästinensischer Musiker:innen gründete er das Nasmé Ensemble, mit dem er in dieser Saison auch im Pierre Boulez Saal zu erleben ist. Sein Repertoire umfasst alle Epochen vom Barock bis in die Gegenwart, wobei er sich besonders intensiv mit zeitgenössischer Musik beschäftigt und Werke u.a. von Jörg Widmann, Kareem Roustom und Matthias Pintscher zur Uraufführung brachte. Michael Barenboim ist Professor für Violine und Kammermusik an der Barenboim-Said Akademie und wirkte hier von 2020 bis 2024 auch als Dekan.

September 2025


Gilbert Nouno
Electronic Music Design

Gilbert Nouno ist Komponist, Professor für elektronische Komposition und interaktive Medien an der Musikhochschule Genf und Dozent für elektronische Musik an der Barenboim-Said Akademie. Beeinflusst von multimedialer Kunst, die traditionelle und neue Techniken verbindet, beschäftigt er sich mit musikalischer Forschung im Grenzbereich zwischen Mensch und Maschine an der Schnittstelle verschiedener künstlerischer Disziplinen. Er promovierte im Fach Computermusik und erhielt das Prix de Rome-Stipendium der Académie de France und das Villa Kujoyama-Stipendium von Cultures France. Zu seinen jüngsten Werken zählen Deejay für Streichquartett und Elektronik, Iwona, eine elektronische Operette, Street Music für Trio und Elektronik sowie Feedback, eine Performance für Triangel mit Elektronik und Video. Er arbeitete mit Künstler:innen wie Jonathan Harvey, Pierre Boulez, Olga Neuwirth, Steve Coleman, dem Jazzflötisten Magic Malik und dem Choreographen Léo Lérus zusammen.

September 2025

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