Stefan Temmingh Blockflöte

Elisabeth Seitz Salterio
Michael Dücker Laute
Johanna Seitz Harfe
Peter Kuhnsch Schlaginstrumente
Stefan Maass Gitarre, Cister
Adrian Rovatkay Fagott, Dulzian, Blockflöte
Hartmut Becker Violoncello
Walewein Witten Cembalo
Mathis Wolfer Blockflöte

Werke von
Michael Nyman
Henry Purcell
Thomas Preston
Chick Corea
Johann Sebastian Bach
Johann Heinrich Schmelzer
Antonio Vivaldi
Tarquinio Merula
Jean-Baptiste Lully
und anderen

Michael Nyman (*1944)
An Eye for Optical Theory
aus der Filmmusik zu The Draughtsman’s Contract (1992)

Henry Purcell (1659–1695)
Ground c-moll ZD 221


Thomas Preston (?) (?–nach 1559)
Uppon la mi re

Henry Purcell
May Her Blest Example Chase
aus Love’s Goddess Sure Was Blind Z 331 (1692)


Chick Corea (1941–2021)
Children’s Song No. 1 (1971–74)

Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Vierzehn Canones BWV 1087 (1748–49) (Auswahl)


Johann Heinrich Schmelzer (um 1623–1680)
Sonata secunda F-Dur
aus Sonatae unarum fidium (1664)


Antonio Vivaldi (1678–1741)
Sonate d-moll RV 63 op. 1 Nr. 12 „La Follia“

 

Pause

 

Tarquinio Merula (1594–1665)
Canzonetta spirituale sopra alla nanna “Hor ch’è tempo di dormire” (1636)

Anonymus
Follias


aus Roswallen Lute Book (1620)
Corne Yairds

aus The Division Flute (1706)
Greensleeves

aus Playford’s English Dancing Master (1651)
Black and Grey


Chick Corea
Children’s Song No. 4

Anonymus
Durham Ground
nach einem Thema von Arcangelo Corelli


Jean-Baptiste Lully (1632–1687)
Chaconne
aus der Tragédie lyrique Phaëton LWV 61 (1683)

Michael Nyman (*1944)
An Eye for Optical Theory
aus der Filmmusik zu The Draughtsman’s Contract (1992)

Henry Purcell (1659–1695)
Ground c-moll ZD 221


Thomas Preston (?) (?–nach 1559)
Uppon la mi re

Henry Purcell
May Her Blest Example Chase
aus Love’s Goddess Sure Was Blind Z 331 (1692)


Chick Corea (1941–2021)
Children’s Song No. 1 (1971–74)

Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Vierzehn Canones BWV 1087 (1748–49) (Auswahl)


Johann Heinrich Schmelzer (um 1623–1680)
Sonata secunda F-Dur
aus Sonatae unarum fidium (1664)


Antonio Vivaldi (1678–1741)
Sonate d-moll RV 63 op. 1 Nr. 12 „La Follia“

 

Pause

 

Tarquinio Merula (1594–1665)
Canzonetta spirituale sopra alla nanna “Hor ch’è tempo di dormire” (1636)

Anonymus
Follias


aus Roswallen Lute Book (1620)
Corne Yairds

aus The Division Flute (1706)
Greensleeves

aus Playford’s English Dancing Master (1651)
Black and Grey


Chick Corea
Children’s Song No. 4

Anonymus
Durham Ground
nach einem Thema von Arcangelo Corelli


Jean-Baptiste Lully (1632–1687)
Chaconne
aus der Tragédie lyrique Phaëton LWV 61 (1683)

asset_image
Pieter Brueghel der Jüngere, Die Kirmes am St. Georgstag (um 1616)

Auf den ersten Blick mutet das Programm des heutigen Konzerts einigermaßen heterogen an: Musik aus England, etwas Bach, einige Italiener, der Franzose Lully – und dazu der Jazz-Großmeister Chick Corea. Den Schlüssel zu dieser Auswahl liefern Stefan Temmingh und das Ensemble Nuovo Aspetto mit dem Titel Playgrounds.

Essay von Michael Horst

Spielwiese der Improvisation
Zum Programm von Stefan Temmingh und Nuovo Aspetto

Michael Horst


Auf den ersten Blick mutet das Programm des heutigen Konzerts einigermaßen heterogen an: Musik aus England, etwas Bach, einige Italiener, der Franzose Lully – und dazu der Jazz-Großmeister Chick Corea. Den Schlüssel zu dieser Auswahl liefern Stefan Temmingh und das Ensemble Nuovo Aspetto mit dem Titel Playgrounds. Eine „Spielwiese“ also für interpretatorische Experimente? Sehr viel mehr: Denn hinter der Bezeichnung „ground“ verbirgt sich – im wahrsten Sinne des Wortes – die Basis für dieses Programm, der musikalische Boden, auf dem die einzelnen Werke angesiedelt sind.

Im England der frühen Barockzeit wurde der Ground zum festen Begriff: er bezeichnet eine Folge von Tönen in der Bassstimme, ein Ostinato, modern ausgedrückt ein Pattern, das als harmonisches Gerüst durchgehend wiederholt wird. Die musikalische Spannung entsteht infolgedessen aus den Oberstimmen, die über dem Bass-Fundament in vielfältiger Weise ausgeschmückt, oft auch improvisiert werden. Während in England manche Kompositionen die Bezeichnung in den Stücktitel aufnahmen, wurden in Italien Begriffe wie Passacaglia, Follia, Ciacona oder Pavana verwendet. In Deutschland bediente sich Johann Pachelbel in seinem berühmten Kanon desselben Prinzips eines fortlaufenden Basses. Bis in die heutige Unterhaltungsmusik ist das Konzept – als Loop, Riff, Vamp oder Walking Bass – als Kompositionsprinzip lebendig geblieben.

England – USA

Am Anfang also steht Henry Purcell – im Original wie in der Bearbeitung. Denn nichts anderes ist im Grunde An Eye for Optical Theory, ein Instrumentalstück, das Michael Nyman 1982 für Peter Greenaways Film The Draughtsman’s Contract (Der Kontrakt des Zeichners) schrieb. Passend zur Handlung, die Ende des 17. Jahrhunderts auf einem englischen Landsitz spielt, bediente sich Nyman der Musik Purcells, darunter auch jenes Ground in c-moll, der im Anschluss in seiner Originalgestalt zu hören ist. Wobei hier die Klassifizierung als Original oder Bearbeitung leicht in die Irre führt, wie Stefan Temmingh erklärt: „Man hat sich in der damaligen Zeit keine großen Gedanken darüber gemacht, auf welchem Instrument man etwas spielte. Und auch für uns ist ein wesentlicher Aspekt dieses Programms das Spielerische, das Improvisatorische. Mal übernimmt die Flöte die Melodie, dann wieder die Laute – wir legen nicht immer alles genau fest.“ Nymans Bearbeitung, die sich harmonisch eng an die Vorlage hält, wird also einfach ein weiteres Mal bearbeitet.

Auch darüber, wie umfangreich ein solcher Ground zu sein hatte, existierten keine klaren Regeln. Der kürzeste wird dem Purcell-Zeitgenossen William Byrd zugeschrieben, der in The Bells mit nur zwei Tönen auskam. Andere Grounds erstrecken sich über mehrere Takte, während die anonyme Komposition Uppon la mi re die drei italienischen Tonsilben (in der deutschen Bezeichnung a – e – d) benennt, auf denen das Stück basiert. Immerhin acht Takte umfasst der markante Ground, den Purcell in „May Her Blest Example Chase“ erfand, dem fünften Abschnitt von Love’s Goddess Sure Was Blind, einer seiner Geburtstags-Oden für Queen Mary.

Ein Sprung ans Ende des 20. Jahrhunderts sorgt für einen musikalischen „Farbtupfer“ (Stefan Temmingh) in Gestalt der Children’s Songs von Chick Corea. 2021 knapp 80-jährig gestorben, war der Pianist und vielfache Grammy-Preisträger bekanntermaßen ein Grenzgänger zwischen Jazz und Klassik. Einerseits trat er mit Miles Davis und Stan Getz, Herbie Hancock und John McLaughlin auf. Legendär war aber auch seine Zusammenarbeit mit dem Wiener Pianisten Friedrich Gulda, die in eine gemeinsame Aufnahme von Mozarts Konzert für zwei Klaviere mündete. Als Komponist schrieb Corea eine Vielzahl von Werken für „sein“ Instrument, darunter jene 20 Children’s Songs, die er 1984 als Album zusammenfasste. Er habe diese Miniaturen komponiert, „um Schlichtheit als Schönheit zu vermitteln, wie sie sich in der Seele eines Kindes widerspiegelt“. Ganz bewusst sind diese Stücke von Béla Bartóks Klaviersammlung Mikrokosmos inspiriert; ihre Schlichtheit entsteht nicht selten auch durch die sich wiederholenden Bass-Figuren, die wie ein Ground funktionieren.

Deutschland – Österreich

Johann Sebastian Bachs Vierzehn Kanons BWV 1087 wurden erst 1973 in seinem Handexemplar des Erstdrucks der „Goldberg-Variationen“ entdeckt. Hier trug der Komponist eigenhändig – und mit Bezug auf das größere Werk – unter der Überschrift „Verschiedene Canones über die ersteren acht Fundamental-Noten vorheriger Arie“ diese kurzen Stücke ein. Die bekannte Bassreihe wird nach allen Regeln der kontrapunktischen Kunst verarbeitet: mal einstimmig, mal zweistimmig, in der Umkehrung, der Spiegelung, sogar mit der „Fundamental-Stimme“ in der Mitte statt als Bass. „Es war mir wichtig, Bach im Programm haben, sozusagen als Ruhepunkt“, sagt Stefan Temmingh. Letztlich habe Bach hie nichts anderes als einen sich stetig wiederholenden Bass – also einen Ground – geschrieben. Doch die überaus komplexe Anlage dieser Canones (von denen eine Auswahl zu hören ist) zwang das Ensemble doch zu Kompromissen, wie der Flötist erklärt: „Wir verzichten hier auf die Improvisation. Stattdessen habe ich mich für eine klare Struktur mit zwei Stimmen plus Bass entschieden, und dabei bleibt es auch.“

Von Leipzig geht die musikalische Reise nach Wien, aus dem Hochbarock des frühen 18. Jahrhunderts in die Zeit um 1660, als Johann Heinrich Schmelzer als Kapellmeister am Hof des kunstsinnigen Kaisers Leopold I. wirkte. „Wir wollten sehr gern auch Musik aus dem Frühbarock spielen“, so Temmingh über die Auswahl, die er gemeinsam mit den Musiker:innen von Nuovo Aspetto getroffen hat, „und diese Sonaten sind ein absoluter Klassiker.“ Schmelzer war nicht nur selbst ein virtuoser Violinist, er komponierte auch eine große Anzahl von Sonaten, aus denen wiederum die „Sonatae unarum fidium, seu a violino solo“, sechs Werke für Solovioline (mit Bassbegleitung) herausstechen, die 1664 in Nürnberg gedruckt wurden. Neben bemerkenswerten spieltechnischen Herausforderungen zeichnen sich die Sonaten in harmonischer Hinsicht auch durch große Expressivität aus. Die Sonata secunda kommt im heutigen Programm zum Zuge, weil sie ihr harmonisches Grundgerüst durchgehend konsequent beibehält, während die Solostimme in immer verspielteren Variationen eine hochvirtuose, schier unendliche Fülle an Ausschmückungen herbeizaubert. Mögen Schmelzers Sonaten auch für Violine komponiert sein – im Stil der Zeit kann man sie selbstverständlich auch auf der Flöte musizieren.

Italien

Der folgende Ausflug nach Norditalien bringt wiederum zwei Werke aus Hochbarock und Frühbarock zusammen. Antonio Vivaldi ist vor allem durch eine gewaltige Zahl von Instrumentalkonzerten bekannt, darunter die allgegenwärtigen Vier Jahreszeiten. Seine Sonate für zwei Violinen und Basso continuo d-moll – im heutigen Konzert ebenfalls in einer Flötenfassung zu hören – ist eine Variationenreihe über „La Follia“, jenes aus Portugal stammende und über Spanien in ganz Europa berühmt gewordene Thema im Sarabanden-Rhythmus, das von Corelli über Scarlatti bis zu Carl Philipp Emanuel Bach und sogar Franz Liszt Generationen von Komponisten angezogen hat. Vivaldi entwickelt aus dem schlichten harmonischen Grundgerüst eine opulente Folge von Variationen, in denen dramatische, rasante und elegische Momente gleichermaßen ins Spiel kommen.

Völlig anderen Charakter trägt die Komposition von Tarquinio Merula, einem Komponisten, der von Cremona aus große Bedeutung für die barocke Instrumentalmusik erlangte, nicht zuletzt, weil er für den Basso continuo, den Generalbass, immer wieder neue Lösungen suchte. Dies zeigt sich exemplarisch in der Canzonetta spirituale sopra alla nanna „Hor ch’è tempo di dormire”, also einem geistlichen Lied über das Wiegenlied „Jetzt ist es Zeit zum Schlafen“. Tatsächlich geht der Text weit über ein einfaches Schlaflied hinaus und weitet sich zu einer Vision Marias über die Zukunft und den Kreuzestod ihres Sohnes: „Amor mio, sia questo petto / Hor per te morbido letto / Pria che rendi ad alta voce / L’alma al Padre su la croce“ (Mein geliebtes Kind, sei diese Brust jetzt ein weiches Bett für dich, bevor du mit lauter Stimme am Kreuz deine Seele dem Herrn empfiehlst). Stefan Temmingh ist sich der Herausforderung bewusst, ein solches hochexpressives Werk ganz ohne Worte aufzuführen: „Wir werden versuchen, diesen Kontext musikalisch deutlich zu machen. Es ist erstaunlich genug, wie Merula sein Stück allein auf zwei Akkorden aufbaut.“

England – Frankreich

Zum Ende des Abends schlagen Temmingh und Nuovo Aspetto noch einmal den Bogen zurück nach England, mit drei traditionellen, volkstümlichen Stücken, die in anonymen Quellen überliefert sind und wiederum dem Prinzip des Ground folgen. Ein „absolutes Unikat“ (Temmingh) ist der an vorletzter Stelle des Programms stehende „Durham Ground“ aus dem Hochbarock zur Mitte des 18. Jahrhunderts: Das Stück basiert auf einer Sarabande von acht Takten aus der Feder des damals längst verstorbenen Arcangelo Corelli –weit über 100 Jahre nach dem Erstdruck seiner Violinsonaten op. 5 war dieses Werk offenbar noch sehr populär. Dem Thema folgt der obligatorische Variationensatz, der dann unvermutet in einen sehr virtuosen und präzise ausgeschriebenen Cembalopart mündet. Zu guter Letzt krönt eine Fuge diesen „Durham Ground“ – erstaunlich, dass die Urheberschaft dieser Komposition bis heute nicht geklärt werden konnte.

Den glanzvollen Abschluss des Konzerts bildet die Chaconne aus Phaéton, einer Tragédie en musique von Jean-Baptiste Lully. Man könnte sich an den Hof von Versailles zurückversetzt fühlen, wo die Oper um den tragischen Sonnenwagenlenker 1683 uraufgeführt wurde. Doch auch in diesem Fall haben sich Temmingh und sein Ensemble für eine ganz besondere Bearbeitung entschieden: Als Quelle diente ein Druck aus London, die Division Flute, in der Lullys Chaconne in einer Version für Flöte herausgegeben wurde. Diese wiederum wurde von den Musiker:innen „rückinstrumentiert“, um sie orchestral wirken zu lassen – ein letztes musikalisches Spiel auf den „Playgrounds“ des heutigen Abends.


Der Berliner Musikjournalist Michael Horst arbeitet als Autor und Kritiker für Zeitungen, Radio und Fachmagazine. Außerdem gibt er Konzerteinführungen. Er publizierte Opernführer über Puccinis Tosca und Turandot und übersetzte Bücher von Riccardo Muti und Riccardo Chailly aus dem Italienischen.

Spielwiese der Improvisation
Zum Programm von Stefan Temmingh und Nuovo Aspetto

Michael Horst


Auf den ersten Blick mutet das Programm des heutigen Konzerts einigermaßen heterogen an: Musik aus England, etwas Bach, einige Italiener, der Franzose Lully – und dazu der Jazz-Großmeister Chick Corea. Den Schlüssel zu dieser Auswahl liefern Stefan Temmingh und das Ensemble Nuovo Aspetto mit dem Titel Playgrounds. Eine „Spielwiese“ also für interpretatorische Experimente? Sehr viel mehr: Denn hinter der Bezeichnung „ground“ verbirgt sich – im wahrsten Sinne des Wortes – die Basis für dieses Programm, der musikalische Boden, auf dem die einzelnen Werke angesiedelt sind.

Im England der frühen Barockzeit wurde der Ground zum festen Begriff: er bezeichnet eine Folge von Tönen in der Bassstimme, ein Ostinato, modern ausgedrückt ein Pattern, das als harmonisches Gerüst durchgehend wiederholt wird. Die musikalische Spannung entsteht infolgedessen aus den Oberstimmen, die über dem Bass-Fundament in vielfältiger Weise ausgeschmückt, oft auch improvisiert werden. Während in England manche Kompositionen die Bezeichnung in den Stücktitel aufnahmen, wurden in Italien Begriffe wie Passacaglia, Follia, Ciacona oder Pavana verwendet. In Deutschland bediente sich Johann Pachelbel in seinem berühmten Kanon desselben Prinzips eines fortlaufenden Basses. Bis in die heutige Unterhaltungsmusik ist das Konzept – als Loop, Riff, Vamp oder Walking Bass – als Kompositionsprinzip lebendig geblieben.

England – USA

Am Anfang also steht Henry Purcell – im Original wie in der Bearbeitung. Denn nichts anderes ist im Grunde An Eye for Optical Theory, ein Instrumentalstück, das Michael Nyman 1982 für Peter Greenaways Film The Draughtsman’s Contract (Der Kontrakt des Zeichners) schrieb. Passend zur Handlung, die Ende des 17. Jahrhunderts auf einem englischen Landsitz spielt, bediente sich Nyman der Musik Purcells, darunter auch jenes Ground in c-moll, der im Anschluss in seiner Originalgestalt zu hören ist. Wobei hier die Klassifizierung als Original oder Bearbeitung leicht in die Irre führt, wie Stefan Temmingh erklärt: „Man hat sich in der damaligen Zeit keine großen Gedanken darüber gemacht, auf welchem Instrument man etwas spielte. Und auch für uns ist ein wesentlicher Aspekt dieses Programms das Spielerische, das Improvisatorische. Mal übernimmt die Flöte die Melodie, dann wieder die Laute – wir legen nicht immer alles genau fest.“ Nymans Bearbeitung, die sich harmonisch eng an die Vorlage hält, wird also einfach ein weiteres Mal bearbeitet.

Auch darüber, wie umfangreich ein solcher Ground zu sein hatte, existierten keine klaren Regeln. Der kürzeste wird dem Purcell-Zeitgenossen William Byrd zugeschrieben, der in The Bells mit nur zwei Tönen auskam. Andere Grounds erstrecken sich über mehrere Takte, während die anonyme Komposition Uppon la mi re die drei italienischen Tonsilben (in der deutschen Bezeichnung a – e – d) benennt, auf denen das Stück basiert. Immerhin acht Takte umfasst der markante Ground, den Purcell in „May Her Blest Example Chase“ erfand, dem fünften Abschnitt von Love’s Goddess Sure Was Blind, einer seiner Geburtstags-Oden für Queen Mary.

Ein Sprung ans Ende des 20. Jahrhunderts sorgt für einen musikalischen „Farbtupfer“ (Stefan Temmingh) in Gestalt der Children’s Songs von Chick Corea. 2021 knapp 80-jährig gestorben, war der Pianist und vielfache Grammy-Preisträger bekanntermaßen ein Grenzgänger zwischen Jazz und Klassik. Einerseits trat er mit Miles Davis und Stan Getz, Herbie Hancock und John McLaughlin auf. Legendär war aber auch seine Zusammenarbeit mit dem Wiener Pianisten Friedrich Gulda, die in eine gemeinsame Aufnahme von Mozarts Konzert für zwei Klaviere mündete. Als Komponist schrieb Corea eine Vielzahl von Werken für „sein“ Instrument, darunter jene 20 Children’s Songs, die er 1984 als Album zusammenfasste. Er habe diese Miniaturen komponiert, „um Schlichtheit als Schönheit zu vermitteln, wie sie sich in der Seele eines Kindes widerspiegelt“. Ganz bewusst sind diese Stücke von Béla Bartóks Klaviersammlung Mikrokosmos inspiriert; ihre Schlichtheit entsteht nicht selten auch durch die sich wiederholenden Bass-Figuren, die wie ein Ground funktionieren.

Deutschland – Österreich

Johann Sebastian Bachs Vierzehn Kanons BWV 1087 wurden erst 1973 in seinem Handexemplar des Erstdrucks der „Goldberg-Variationen“ entdeckt. Hier trug der Komponist eigenhändig – und mit Bezug auf das größere Werk – unter der Überschrift „Verschiedene Canones über die ersteren acht Fundamental-Noten vorheriger Arie“ diese kurzen Stücke ein. Die bekannte Bassreihe wird nach allen Regeln der kontrapunktischen Kunst verarbeitet: mal einstimmig, mal zweistimmig, in der Umkehrung, der Spiegelung, sogar mit der „Fundamental-Stimme“ in der Mitte statt als Bass. „Es war mir wichtig, Bach im Programm haben, sozusagen als Ruhepunkt“, sagt Stefan Temmingh. Letztlich habe Bach hie nichts anderes als einen sich stetig wiederholenden Bass – also einen Ground – geschrieben. Doch die überaus komplexe Anlage dieser Canones (von denen eine Auswahl zu hören ist) zwang das Ensemble doch zu Kompromissen, wie der Flötist erklärt: „Wir verzichten hier auf die Improvisation. Stattdessen habe ich mich für eine klare Struktur mit zwei Stimmen plus Bass entschieden, und dabei bleibt es auch.“

Von Leipzig geht die musikalische Reise nach Wien, aus dem Hochbarock des frühen 18. Jahrhunderts in die Zeit um 1660, als Johann Heinrich Schmelzer als Kapellmeister am Hof des kunstsinnigen Kaisers Leopold I. wirkte. „Wir wollten sehr gern auch Musik aus dem Frühbarock spielen“, so Temmingh über die Auswahl, die er gemeinsam mit den Musiker:innen von Nuovo Aspetto getroffen hat, „und diese Sonaten sind ein absoluter Klassiker.“ Schmelzer war nicht nur selbst ein virtuoser Violinist, er komponierte auch eine große Anzahl von Sonaten, aus denen wiederum die „Sonatae unarum fidium, seu a violino solo“, sechs Werke für Solovioline (mit Bassbegleitung) herausstechen, die 1664 in Nürnberg gedruckt wurden. Neben bemerkenswerten spieltechnischen Herausforderungen zeichnen sich die Sonaten in harmonischer Hinsicht auch durch große Expressivität aus. Die Sonata secunda kommt im heutigen Programm zum Zuge, weil sie ihr harmonisches Grundgerüst durchgehend konsequent beibehält, während die Solostimme in immer verspielteren Variationen eine hochvirtuose, schier unendliche Fülle an Ausschmückungen herbeizaubert. Mögen Schmelzers Sonaten auch für Violine komponiert sein – im Stil der Zeit kann man sie selbstverständlich auch auf der Flöte musizieren.

Italien

Der folgende Ausflug nach Norditalien bringt wiederum zwei Werke aus Hochbarock und Frühbarock zusammen. Antonio Vivaldi ist vor allem durch eine gewaltige Zahl von Instrumentalkonzerten bekannt, darunter die allgegenwärtigen Vier Jahreszeiten. Seine Sonate für zwei Violinen und Basso continuo d-moll – im heutigen Konzert ebenfalls in einer Flötenfassung zu hören – ist eine Variationenreihe über „La Follia“, jenes aus Portugal stammende und über Spanien in ganz Europa berühmt gewordene Thema im Sarabanden-Rhythmus, das von Corelli über Scarlatti bis zu Carl Philipp Emanuel Bach und sogar Franz Liszt Generationen von Komponisten angezogen hat. Vivaldi entwickelt aus dem schlichten harmonischen Grundgerüst eine opulente Folge von Variationen, in denen dramatische, rasante und elegische Momente gleichermaßen ins Spiel kommen.

Völlig anderen Charakter trägt die Komposition von Tarquinio Merula, einem Komponisten, der von Cremona aus große Bedeutung für die barocke Instrumentalmusik erlangte, nicht zuletzt, weil er für den Basso continuo, den Generalbass, immer wieder neue Lösungen suchte. Dies zeigt sich exemplarisch in der Canzonetta spirituale sopra alla nanna „Hor ch’è tempo di dormire”, also einem geistlichen Lied über das Wiegenlied „Jetzt ist es Zeit zum Schlafen“. Tatsächlich geht der Text weit über ein einfaches Schlaflied hinaus und weitet sich zu einer Vision Marias über die Zukunft und den Kreuzestod ihres Sohnes: „Amor mio, sia questo petto / Hor per te morbido letto / Pria che rendi ad alta voce / L’alma al Padre su la croce“ (Mein geliebtes Kind, sei diese Brust jetzt ein weiches Bett für dich, bevor du mit lauter Stimme am Kreuz deine Seele dem Herrn empfiehlst). Stefan Temmingh ist sich der Herausforderung bewusst, ein solches hochexpressives Werk ganz ohne Worte aufzuführen: „Wir werden versuchen, diesen Kontext musikalisch deutlich zu machen. Es ist erstaunlich genug, wie Merula sein Stück allein auf zwei Akkorden aufbaut.“

England – Frankreich

Zum Ende des Abends schlagen Temmingh und Nuovo Aspetto noch einmal den Bogen zurück nach England, mit drei traditionellen, volkstümlichen Stücken, die in anonymen Quellen überliefert sind und wiederum dem Prinzip des Ground folgen. Ein „absolutes Unikat“ (Temmingh) ist der an vorletzter Stelle des Programms stehende „Durham Ground“ aus dem Hochbarock zur Mitte des 18. Jahrhunderts: Das Stück basiert auf einer Sarabande von acht Takten aus der Feder des damals längst verstorbenen Arcangelo Corelli –weit über 100 Jahre nach dem Erstdruck seiner Violinsonaten op. 5 war dieses Werk offenbar noch sehr populär. Dem Thema folgt der obligatorische Variationensatz, der dann unvermutet in einen sehr virtuosen und präzise ausgeschriebenen Cembalopart mündet. Zu guter Letzt krönt eine Fuge diesen „Durham Ground“ – erstaunlich, dass die Urheberschaft dieser Komposition bis heute nicht geklärt werden konnte.

Den glanzvollen Abschluss des Konzerts bildet die Chaconne aus Phaéton, einer Tragédie en musique von Jean-Baptiste Lully. Man könnte sich an den Hof von Versailles zurückversetzt fühlen, wo die Oper um den tragischen Sonnenwagenlenker 1683 uraufgeführt wurde. Doch auch in diesem Fall haben sich Temmingh und sein Ensemble für eine ganz besondere Bearbeitung entschieden: Als Quelle diente ein Druck aus London, die Division Flute, in der Lullys Chaconne in einer Version für Flöte herausgegeben wurde. Diese wiederum wurde von den Musiker:innen „rückinstrumentiert“, um sie orchestral wirken zu lassen – ein letztes musikalisches Spiel auf den „Playgrounds“ des heutigen Abends.


Der Berliner Musikjournalist Michael Horst arbeitet als Autor und Kritiker für Zeitungen, Radio und Fachmagazine. Außerdem gibt er Konzerteinführungen. Er publizierte Opernführer über Puccinis Tosca und Turandot und übersetzte Bücher von Riccardo Muti und Riccardo Chailly aus dem Italienischen.

Die Künstler:innen


Stefam Temmingh
Blockflöte

Der gebürtige Südafrikaner Stefan Temmingh studierte bei Markus Zahnhausen in München und an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main bei Michael Schneider. Als einer der führenden Blockflötisten der Welt und gastiert regelmäßig u.a. beim Bachfest Leipzig, den Händel-Festspielen in Halle und in Göttingen, Oude Muziek in Utrecht, dem Boston Early Music Festival und bei Festivals in Asien und Afrika. Als Solist trat er mit der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern, dem Estonian National Symphony Orchestra, den Bochumer Symphonikern, dem WDR Funkhausorchester und der Hong Kong Sinfonietta auf. Sein Repertoire umfasst dabei Originalliteratur für Blockflöte vom Barock bis in die Gegenwart. Regelmäßig bringt er neue Konzerte für Blockflöte zur Uraufführung, die er bei zeitgenössischen Komponist:innen in Auftrag gibt. Für seine Einspielung von Blockflötenkonzerten von Bach, Fasch, Graupner und Telemann zusammen mit dem Barockorchester Capricornus Consort Basel, mit dem ihn seit 2017 eine enge Zusammenarbeit verbindet, erhielt er 2022 den OPUS Klassik. Außerdem wurde er mit dem ECHO Klassik, dem International Classical Music Award und dem Diapason d’Or ausgeyeichnet. Seit 2019 lehrt Stefan Temmingh als Professor an der Hochschule für Musik in Freiburg.

Oktober 2025


Aspetto Nuovo

Das Ensemble Nuovo Aspetto wurde von Michael Dücker, Johanna Seitz und Elisabeth Seitz ins Leben gerufen und hat sich der Wiederentdeckung barocker und frühklassischer Werke für ungewöhnliche Besetzungen verschrieben. Bisherige Konzertprojekte und CD-Aufnahmen waren u.a. Johann Georg Reutter, Francesco Ratis, Antonio Caldara sowie Joseph Haydn gewidmet, dessen Orchesterwerke das Ensemble in kammermusikalischen Bearbeitungen seiner Zeitgenossen einspielte. Zuletzt erschienen Arien und Instrumentalwerke von Francesco Bartolomeo Conti und das Album Il gondoliere Veneziano mit dem Bariton Holger Falk. Gastspiele führten Nuovo Aspetto u.a. ins Konzerthaus Wien, die Elbphilharmonie und Laeiszhalle in Hamburg, ins Prinzregententheater München, zur Schubertiade Schwarzenberg-Hohenems, zu den Innsbrucker Festwochen für Alte Musik, den Händelfestspielen in Karlsruhe, zum Musikfest Bremen sowie zuletzt auf eine Tournee in die USA.

Oktober 2025

Veranstaltungsdetails & Karten Print Program